Spirituelles Neonflimmern

Anmerkung zu ENTER THE VOID von Gaspar Noe

Von Jörg Buttgereit

 

Die Inspirationsquellen für Gaspar Noes provokante Werke liegen sowohl im Arthouse- als auch im Exploitation-Kino. Da trifft die formale Experimentier- freudigkeit der Nouvelle Vague auf das radikale Schockpotenzial des Cinema of Transgression. Schon Noe`s erster Langfilm, „Menschenfeind“ aus dem Jahr 1998, vermag stilistisch mit schrägen und ausschnitthaften Cinemascopebildern und einer resoluten Montagetechnik zu überzeugen, die man eher im unkonventionellen Experimentalfilm vermuten würde. Der Film porträtiert äußerst beklemmend einen reaktionären arbeitslosen Pferdeschlachter (Philippe Nahon), der in einem heruntergekommenen Vorort von Paris zu einer menschlichen Zeitbombe wird. Noe`s rückwärts erzählter Rape-and-Revenge Alptraum „Irreversibel“, in der ein von Rachegelüsten getriebener Vincent Cassel die endlos auf der Leinwand ausgedehnte Vergewaltigung seiner Freundin Monica Bellucci sühnt, wurde 2002 zum umstrittenen Skandalfilm in Cannes und verlieh dem Regisseur endgültig das Image eines Enfant Terrible.

I.

Vordergründig betrachtet fehlt „Enter the Void“ das für Noe bislang so essentielle Schockmoment. Auch fehlen ihm die Stars, deren öffentliches Bild er auf der Leinwand demontieren könnte. In die für ihn typische Schonungslosigkeit mischt sich dafür diesmal ein Hoffnungsschimmer.

Oscar und seine Schwester Linda haben als Kinder bei einem Autounfall ihre Eltern verloren. Damals haben sie geschworen sich niemals zu verlassen. Jetzt leben die beiden Twens im neongleißenden Tokio. Oscar, aus dessen Subjektive der Film erzählt ist, verdient sein Geld als Drogendealer. Linda strippt in einem Nachtclub und lässt sich mit ihrem Chef ein. Bei einer Razzia wird Oscar von der Polizei auf der Toilette einer Bar erschossen. In der Enge der mit Fäkalien besudelten Kabine entweicht das Leben aus Oscar. Seine Seele verlässt den sterbenden Körper. Oscar schwebt jetzt über allem.

II.

Wie in allen Filmen Noes geht es auch in „Enter the Void“ um den Urschock, die Hilflosigkeit des Menschen gegenüber der eigenen Sterblichkeit. Er fordert uns auf das Nichts zu betreten, mit den Augen seines Protagonisten das Unbekannte zu erforschen und dabei seiner Kopfstimme zu lauschen. Assoziativ verbinden sich in Oscars Gefühlswelt Gegenwart und Vergangenheit. Alles, was auf seiner Seele Spuren hinterlassen hat wird sichtbar. Dabei findet Noe diesmal Trost in der japanischen Kultur. Im Shintoismus gibt es die als Kami bezeichneten vergöttlichten Wesen, die auch die Seelen Verstorbener sein können, die, wie Oscar, nun ruhelos zwischen der Welt der Lebenden und dem enseits verweilen. Diese Kami weisen im religiösen Kontext typische Eigenschaften heiliger Wesen wie Allwissenheit oder Allmacht auf. So mag es für japanische Zuschauer nicht außergewöhnlich erscheinen, wenn der erschossene Oscar seine sterbliche Körperhülle verlässt um sich seine schillernde Spielzeugstadt Tokio von oben zu beschauen. Er bleibt seinen Lieben treu, dringt gar bis in ihre Hirn- und Darmwindungen vor. Einmal deutet Linda ihrem japanischen Zuhälter gegenüber an, sie hätte sich längst umgebracht wenn sie nicht noch immer die Präsenz ihres toten Bruders spüren würde.

Das Jenseits ist für Oscar ein pulsierend fluoreszierendes Love-Hotel. Hier darf er sich ungehemmt mit seiner Schwester vereinen. „Come Inside me“ flüstert sie in sein/unser Ohr. In der Geborgenheit ihres Schosses wird Oscar schließlich Wiedergeboren. Ein Death-Trip mit Reinkarnation als Happy End.

III.

Derartig kompromisslose und visionäre filmische Experimente sind heute eine absolute Seltenheit in der von minimalem Konsens geprägten Filmindustrie. Lediglich David Lynch wagte sich jüngst mit seinem psychologisch entrückten „Inland Empire“ filmästhetisch in ähnlich unsichere Gefilde. Mit ausladenden 154 Minuten Laufzeit und der schwerelosen Point-of-view-Kamera ist Noe`s aufgeblasener Experimentalfilm schon formal eine Herausforderung an den Zuschauer. Die Zwanghaftigkeit des Filmemachers, jedes Gefühl verbildlichen zu müssen, führt bisweilen dazu, dass sein surreales Gefühlskino überdeutlich erklärend, und damit schon wieder banal wirkt. That`s life.

Anm.: Die Text erscheint mit freundlicher Genehmigung der Autors. Er erschien in anderer Fassung in epd Film 8/2010.