M. Lindwedel

Der voyeuristische Akt

Alain Robbe-Grillet umschreibt den Blick David Hamiltons

Le chasseur fantôme erre de chambre en chambre, sans faire de bruit lui non plus. Il est à la recherche de quelque chose, et il ne sait pas de quoi. Il pousse avec douceur le battant d’une porte. Il s’arrête. Il voit. Son nom est David Hamilton.
(David Hamilton, Alain Robbe-Grillet: Rêves de jeunes filles, S. 5)
Der schemenhafte Jäger irrt von Raum zu Raum, man hört ihn kaum. Er weiß nicht, was er sucht. Leise öffnet er die Tür. Er bleibt stehen. Er sieht. Sein Name ist David Hamilton.
(Mädchenträume. Von David Hamilton und Alain Robbe-Grillet, S. 5)

Der folgende Text ist ein umgearbeiteter Ausschnitt aus einer umfangreichen Arbeit, die sich dem literarischen wie filmischen Werk des französischen nouveau romanciers Alain Robbe-Grillet unter dem Aspekt der Visualität und Intermedialität annähert. Dabei spielt die Frage nach den in den Texten und Filmen etablierten Wahrnehmungsstrukturen eine große Rolle. Eine zentrale Wahrnehmungsdisposition bei Robbe-Grillet manifestiert sich immer wieder im Typus des Voyeur, der unter anderem eng verknüpft wird mit dem des Fotografen. So geht es auch im folgenden um die Reflexion auf den voyeuristischen Akt. Es ist der voyeuristische Akt des Fotografierens selbst und eines bestimmten Fotografen im Besonderen: David Hamilton. Zu zwei Bildbänden Hamiltons hat Robbe-Grillet kurze Texte verfasst (Rêves de jeunes filles, 1971 und Les demoiselles d’Hamilton, 1972), später auch zu einem Band von Irina Ionesco (Temple aux miroirs, 1977). Die Beschäftigung mit Hamilton, die sich über die Bildbände hinaus auch auf Topologie d’une cité fantôme (Paris 1976, dt.: Ansichten einer Geisterstadt, Hanser: München 1977) erstreckt, hat zu Irritationen bei den Interpreten geführt, nicht zuletzt wegen der „zweifelhaften“ ästhetischen Dimension des hamiltonschen Werkes, das sich immer am „Rande zum Kitsch hin“ bewege (Koppen 1987, S. 154). Koppen attestiert sogar eine „Fragwürdigkeit des Unternehmens“ Robbe-Grillets, sich überhaupt mit dem „morbiden Lyrismus dieser Photographien“ zu befassen (ebd., S. 155). Tatsächlich wirken die Texte zunächst recht untypisch für Robbe-Grillet: Versstruktur und eine poetisch-verspielte Sprache voller Metaphern und naiv anmutender Bilder scheinen nichts gemeinsam zu haben mit dem neutralen Sprachduktus der Romane. Koppen schließt mit der Frage

ob nicht möglicherweise die Texte Robbe-Grillets absichtlich 'enfantins’ sind und ob hier nur ein selbstkritischer Autor die Schwierigkeiten beschreibt, die ihn das Verfassen von Texten zu Aktphotografien bereitet hat. (ebd., S. 156)

Nicht nur, dass hier nicht mehr nur von Hamilton die Rede ist, sondern von „Texten zu Aktfotografien“ überhaupt, kann man wohl ausgerechnet Robbe-Grillet keine „Schwierigkeit“ im Umgang mit Aktfotografien und im Besonderen mit Hamilton attestieren (man denke nur an die offensive Koketterie mit der eigenen Vorliebe für junge Mädchen, die Robbe-Grillet nicht nur in den quasi-autobiographischen Romanesques betreibt).

Viel überzeugender ist Michael Nerlichs Ansatz, der die Fotobände in direkte Beziehung setzt zu Robbe-Grillets übrigem Werk. Nerlich sieht im Frauenakt den „thème générateur principal“ der Arbeiten - Filme wie Romane - seit La Maison de rendez-vous (1965): „Robbe-Grillet macht die visuelle männliche Darstellung der Frau, konkret: den weiblichen Akt, zum thème générateur seiner Werke, wobei er Trivial-und Porno-Nacktversionen zusammen-kon-struiert mit Frauenakten von Delvaux, Magritte, Yves Klein, Ingres [...]“ (Nerlich 1980, S. 48). Nerlich betont dabei ausdrücklich, dass es nicht die nackte Frau selbst ist, die zum zentralen „incipit“ wird, sondern der Blick auf die nackte Frau:

Zur Vermeidung eines weiteren Missverständnisses sei noch einmal betont, dass das thème générateur principal Robbe-Grillets nicht die nackte Frau ist, sondern die nackte Frau, gesehen vom Mann. Das heißt: es handelt sich nicht um die Vision, die Robbe-Grillet von der nackten Frau besitzt, sondern um die Vision von der männlichen Vision der nackten Frau. Mit anderen Worten: Robbe-Grillet benutzt die Vision anderer Männer [...] als Material für die Konstruktion seiner Artefakte, was bedeutet, dass gleichzeitig das Sehen selbst mit thematisiert ist. (ebd., S. 48)

Der Frauenakt selbst dient also als Material, das nicht um seiner selbst willen „zitiert“ wird, sondern dem eine reflexive Dimension beigestellt wird, die nicht direkt das zitierte Objekt zum Inhalt hat, sondern den darin implizit enthaltenen Blick. Besonders signifikant wird diese Struktur in den Fotobänden, wo sich der „zitierte“ Frauenakt, das Bild, durch seine visuelle Darstellung vom Text zunächst einmal getrennt darstellt. Dem Text kommt hier eine spannungsreiche Kommentarfunktion zu, ein Kommentar, der nicht das Bild selbst in seinem Denotat trifft oder beschreibt, sondern es um eine reflexive Ebene erweitert. Der Text Robbe-Grillets trägt also etwas Neues in die Bilder von Hamilton hinein: er kommentiert nicht nur die darin enthaltene Vision von der Frau, er entfaltet ein Spiel aus Blickstrategien, die den (in den Fotografien selbst unsichtbaren) Fotografen und seine Vision mit einbeziehen.

Exemplarisch soll an dieser Stelle der erste Fotoband von Hamilton, der in Kooperation mit Robbe-Grillet entstand, in Hinsicht auf die darin enthaltenen Blickstrategien analysiert werden. Parallel dazu soll das Kapitel Zweiter Raum aus Ansichten einer Geisterstadt betrachtet werden, das in enger Anlehnung an die Fotobände zu Hamilton den Typus des Fotografen „David H.“ bzw. „D.H.“ entwickelt. Ich greife zum besseren Verständnis neben den französischen Original-Zitaten auf die deutsche Übersetzung des Fotobandes unter dem Titel „Mädchenträume“ zurück, obwohl diese Übertragung zu großen Teilen recht frei gestaltet ist und den französischen Text oft genug wenn nicht verfälscht, so doch grob verfehlt. Die Paganierung der französischen sowie der deutschen Ausgaben sind identisch.

Rêves des jeunes filles enthält die typischen hamiltonsche Aktaufnahmen von jungen Mädchen zwischen 15 und 20 Jahren. Die Umgebung wirkt romantisiert-ländlich, es sind Zimmer zu sehen, Schlafzimmer, oder eher „Schlafgemache“: ausstaffiert in einer Art viktorianisch-verspielten Stil, bestückt mit Kissen, Plüschsesseln, Spiegeln, Fenstern mit Weinranken. Einige wenige Außenaufnahmen zeigen Felder, Wiesen, einen See. Schwarzweiß-Fotos und Farbaufnahmen wechseln sich ab – und der berühmte „Weichzeichner“ steht neben harten, kontrastreichen Farbaufnahmen. Die Protagonistinnen sind meist körperlich passiv: sie sitzen, liegen, schlafen, schauen aus dem Fenster, sie lesen. Ihr Blick wirkt abwesend und in sich gekehrt. Manchmal blicken sie aus dem Fenster, oft in den Spiegel oder auf den Körper einer zweiten jungen Frau in ihrer unmittelbaren Nähe. Sehr selten jedoch richtet sich ihr Blick direkt in die Kamera. Selbst ihre Augen sind kaum zu sehen. Wenn doch, so geht der Blick knapp am Betrachter vorbei ins Leere, oder aber er entpuppt sich als Blick aus dem Spiegel. Nerlich nimmt diese offensichtliche Eigenart der Hamiltonschen „filles“ zum Anlass für folgende Feststellung:

Wie aber immer die Mädchen sich zu sich selbst oder zueinander verhalten: sie verhalten sich so gut wie nie [...] zum Photographen. Anders ausgedrückt: der Photograph scheint nicht vorhanden, er stört die Mädchen nicht, sie sind für sich da und nicht für den Betrachter. (Nerlich 1980, S. 50)

Dieser Eindruck entsteht in einer Art von „Natürlichkeit“, die den Fotos anhaftet. Die Szenen wirken (wenn auch von der produktionstechnischen Seite höchst dicht komponiert und strukturiert) auf den Betrachter wie die räumliche Umgebung natürlich, uninszeniert, wenn auch keinesfalls dokumentarisch. Vielmehr handelt es sich um die künstlerische Illusion einer „Natürlichkeit“, die der Effekt einer versiert-technischen Komposition und Gestaltungsweise ist, die selbst im Trick des Weichzeichners nur eine behutsame romantische Überhöhung zulässt. Die Strategie, die hinter dieser „Natürlichkeit“ steckt, zielt ab auf ein Frauenbild, das die „Unschuld“ und Uninszeniertheit der Akt-Objekte evozieren soll.

Irritierenderweise attestiert Nerlich dieser Gestaltungsweise „das Fehlen des männlichen Voyeur-Blicks“ (ebd., S. 50), was für ihn bedeutet, dass der Voyeur-Blick im Dargestellten nicht präsent ist, d.h. nicht offensichtlich inszeniert ist und damit „die Mädchen nicht stören“ würde. Doch zeichnet sich der Voyeur ja gerade dadurch aus, dass er nicht anwesend, dass er unsichtbar ist und somit das visuelle Feld selbst unentdeckt beherrschen kann.

Dass Nerlich eigentlich von der Reflexion auf den Voyeur-Blick spricht, wird deutlich, wenn er Hamiltons Bilder denen Irina Ionescos in Temple aux miroirs gegenüberstellt: Ionescos Darstellungen sind offensichtlich für den Voyeur-Blick inszeniert, spiegeln diesen in ihrer übersteigerten provokanten Obszönität wieder. Die bordellartigen Inszenierungen der fast ausnahmslos in die Kamera blickenden, sich quasi dem Kameraauge präsentierenden und anbietenden jungen Mädchen „bestätigen vielmehr auf provozierende Art und Weise männliche Sexualvisionen, was durch die fotografische Thematisierung des Kindfrau- und Alraunenmythos noch gesteigert wird.“ (ebd., S. 48) Bei Ionesco ist der „männliche Blick“ bereits in den Fotografien thematisiert. Sybil Dümchen leitet daraus ab, dass Robbe-Grillets Texte hier vornehmlich bildunterstützende Funktionen haben können und dass zwischen Bild und Text „keine ausreichende produktive Spannung entstehen kann“ (Dümchen 1994, S. 139). Eine solche Spannung aber entsteht im Verhältnis der Bilder Hamiltons mit den Texten Robbe-Grillets gerade durch die Illusion der Abwesenheit des Voyeur-Blicks, die Hamilton mit seiner Inszenierungsweise schafft, und die Robbe-Grillet subversiv durchbricht. Denn letztendlich ist Hamiltons Obsession des „abwesenden“ Voyeurs nur ein weiteres männliches Phantasma, das seine Begierde aus der Intimität und „Natürlichkeit“ der Situation bezieht – und eben nicht aus dem bewussten Spiel, der Inszenierung der Begierde. Und gerade diese ambivalente Struktur der Fotos machen die Texte sichtbar und treiben schließlich ein manipulatives Spiel mit ihnen.

Noch bevor der Betrachter des Bildbandes die ersten Aufnahmen im Inneren von Rêves des jeunes filles zu sehen bekommt, beginnt schon der erste Text Robbe-Grillets: die „Introduction“:

Chasseur de rêves, l’homme aux yeux pâles poursuit les papillons adolescents aux ailes toutes neuves, à peine sortis de leur chrysalide. Il les dragues dans de grands filets tendus à travers les avenues de Lübeck ou de Copenhague, le campus des lycées suédois, les longues plages de la Baltique. Il les rapporte précieusement, sans les abîmer, et les encage aussitôt dans une grande maison perdue, sa maison, où il les observe à loisir. […] Le chasseur fantôme erre de chambre en chambre, sans faire de bruit lui non plus. Il est à la recherche de quelque chose, et il ne sait pas de quoi. Il pousse avec douceur le battant d’une porte. Il s’arrête. Il voit. Son nom est David Hamilton. (Rêves de jeunes filles, S. 5)

Wie ein Jäger von Träumen verfolgt der Mann mit den grauen Augen die blutjungen Schmetterlinge, die mit ihren neuen Flügeln gerade den Chrysaliden entsprungen sind. Er fängt sie ein in großen Netzen auf den Straßen von Lübeck und Kopenhagen, auf dem Kampus der schwedischen Schulen, den weiten baltischen Stränden. Vorsichtig trägt er sie zurück, ohne sie zu verletzen, wie in einen Käfig sperrt er sie in ein großes, einsames Haus, sein Haus, wo er sie in Muße betrachten kann. [...] Der schemenhafte Jäger irrt von Raum zu Raum, man hört ihn kaum. Er weiß nicht, was er sucht. Leise öffnet er die Tür. Er bleibt stehen. Er sieht. Sein Name ist David Hamilton.

Diese „Introduction“ führt im wahrsten Sinne etwas ein: nämlich das in den Fotografien ausgeklammerte Subjet, den Fotografen, und damit verweist der Text bereits hier auf den Blick als Thema: die folgenden Fotos stehen nicht für sich selbst, sondern auch für den Fotografen, der seine Modelle sucht, sie (mit der Kamera) einfängt und ihr fotografisches Abbild quasi als Beute in „sa maison“ mitnimmt. Die metaphorische Sprechweise bedient sich dabei durchaus einem Modus, der dem Romantismus der Hamiltonschen Bilder ähnelt, zielt aber auf die reflexive Ebene, die diese selbst aussparen. Die Identifikation des Blicks und seines Subjekts stellt der Text ganz eindeutig heraus: „Il voit. Son nom est David Hamilton.“ Diese Einleitung erweitert die folgenden Fotos um die Dimension ihres „Erzeugers“ - und gleichzeitig auch um die ihres Betrachters, der Einblick erhält in die Zimmer des Hauses. Sie projizieren den Blick des Mannes als reflexive – aber auch als begehrende - Dimension in die Fotos hinein.

Allerdings sollte man den Mann, dessen Blick hier auf der Textebene etabliert wird, nicht mit dem „realen“ David Hamilton verwechseln:

Natürlich ist David H., D.H., der David Hamilton Robbe-Grillets also nicht identisch mit David Hamilton, dem Photographen, aber Robbe-Grillet hat die Vision, die der Photograph Hamilton von der nackten, jungen Frau entwirft, in sein dynamisches Mosaik der männlichen Vision von der nackten Frau integriert. (Nerlich 1980, S. 52)

„David Hamilton“, oder der D.H. aus Ansichten einer Geisterstadt, ist also ein Blick-Konstrukt, das Robbe-Grillet aus den Fotos destilliert hat, allerdings auch nachhaltig durch seine Texte neu bzw. erweitert mit-konstruiert. Es ist der Fotograf, der seine Objekte belauert, sie wie Schmetterlinge einfängt und konserviert. Für diese fotografische Methode und ihr Produkt, den Fotoband selbst, wählt Robbe-Grillet das Bild der „grande maison“, wo der Fotograf-Voyeur die Objekt-Opfer seiner Sammlung in Ruhe und Abgeschiedenheit betrachten kann – und damit das Dispositiv des Betrachters des Fotobandes widerspiegelt: das Haus des Fotografen mit den eingesperrten jungen Frauen wird zur Metapher des Fotobandes selbst, durch den sich der Betrachter wie durch die Räume der „grande maison“ bewegen kann und die „Schmetterlinge“ in der Abgeschiedenheit des geschlossenen Raumes in Ruhe betrachten kann, also über die Objekte des Blicks frei verfügen kann. Der Blickende wird zum Besitzenden – weswegen der Titel des zweiten Fotobandes auch konsequent die Besitzanzeige ausdrückt: Les demoiselles d’Hamilton.

Der Titel des ersten Bandes drückt hingegen eine Ambivalenz aus: Rêves de jeunes filles kann ebenso bedeuten, dass es um die Träume der jungen Mädchen geht, aber auch um die Träume von jungen Mädchen, also Hamiltons Träume, seine „Vision“ der jungen nackten Frau. Beide Ebenen sind im Text präsent: sowohl Hamiltons Vision als auch die Träume der Mädchen. Denn alle Fotos, die nicht in Interieurs aufgenommen sind (also den Zimmern der „grande maison“) sind vom Text zumindest andeutungsweise als Traum identifiziert, als imaginäre Flucht aus der Gefangenschaft in der „grande maison“. Zuvor jedoch etabliert der Text die Vision der „jeune captive“, der „jungen Gefangenen“. Zu einer Schwarz-Weiß-Aufnahme [Abbildung S. 7] eines jungen Mädchens in einem leichten Nachthemd, die auf der Fensterbank ihre Zimmers hockt und durch die mit dünnem Gittermuster versehenen Fenster blickt, den rechten Arm nach oben angewinkelt auf den Fenstergriff gestützt, evoziert der Text das Bild einer Gefangenschaft:

Enfermée pour quelle faute, imaginaire,
la trop jeune captive attend, promise à quoi?
Prisonnière de l’été trop lourd
aux après-midi trop longues,
elle s’est mise elle-même au secret.
Elle ne veut savoir ni la raison
ni la durée de sa pénitence.
(Rêves de jeunes filles, S. 6)

Eingesperrt für welches imaginäres Vergehen
wartet die zu junge Gefangene, doch worauf?
Gefangene des zu schwülen Sommers
mit den zu langen Nachmittagen,
hat sie sich selbst dem Geheimnis übergeben.
Sie will nicht den Grund,
noch die Dauer ihrer Gefangenschaft wissen.

Das Mädchen entspricht dem bei Robbe-Grillet oft benutzen Frauentypus der „jungen Gefangenen“ (vgl. z.B. Alice in Glissements progressifs du plaisir). Der Grund für ihre Situation ist ihr nicht bekannt. Vermutlich ist es nur ein Vorwand („faute, imaginaire“), um sie als Objekt beherrschbar zu machen. Doch im Gegensatz zu Alice rebelliert die „jeune captive“ nicht: Der Text erklärt eindeutig ihre Ergebenheit in ihr Schicksal, sie macht keine Anstrengung, den Grund für ihre „pénitence“ zu erfahren. Durch den Text bekommt die Haltung des Mädchens auf dem gegenüberliegenden Foto nicht nur etwas träumerisches, sondern einen Ausdruck der Kraftlosigkeit und (Selbst-) Aufgabe.

Doch in der Selbstaufgabe und der Isolation des Zimmers lässt der Text auch ein erwachendes Begehren entstehen, das zentrale Leitthema der Bilder Hamiltons: das junge Mädchen betrachtet sich selbst im Spiegel, erforscht ihren Körper und erträumt sich schließlich eine „amante“, eine Geliebte. So heißt es im dritten Textteil „Le double“:

Celle qui se regarde trop longtemps,
le miroir l’a dédoublée.
Voici l’impossible amante,
autre et pareille,
née de la solitude et du rêve
et de la main qui s’aventure [...]
(Rêves de jeunes filles, S. 23)

Die, die sich zu lange betrachtet,
sie wird im Spiegelbild Paar.
Da, die unmögliche Geliebte –
anders und gleich.
Geboren aus Einsamkeit und Traum
und aus der Hand, die abenteuert.

Der Selbstblick im Spiegel, das sexuelle Erwachen in der Erforschung und Betrachtung des eigenen Körpers, das der Text beschwört, findet sich in den vorhergegangenen Bildern nur andeutungsweise. Robbe-Grillet nimmt das bei Hamilton immer wiederkehrende Motiv des Spiegels auf, erweitert die Selbstversunkenheit der Mädchenblicke aber um die konkrete sexuelle Dimension, die schließlich in (imaginäre) lesbische Liebesspiele mündet, die in dieser Explizität ebenfalls nicht in den Fotos selbst Darstellungen finden.

In den höchst intimen Momenten der Selbstentdeckung, des Spiegelblicks, wechselt der Text die Perspektive: er gibt den einzelnen Mädchen, die auf den Fotos zu sehen sind, eine einheitliche Stimme und lässt sie vorübergehend scheinbar zum Subjekt werden. Der Er-Code wird zum Schluss von „Le double“ zugunsten eines „je“ aufgegeben: „Ai-je rêvé, deux fois deux bouches aux deux fois deux fois deux lèvres.“ („Hab’ ich geträumt, zweimal zwei Münder mit zweimal zwei Lippen?) In der Verdopplung im Spiegel, die der Text selbst in einer doppelten Wiederholung („deux fois deux fois“) spiegelt, entsteht ein Subjekt, das sich paradoxerweise nur in der Verdopplung der Projektion und dem damit verbundenen sexuellen Erwachen konstituiert. (Das Motiv des Spiegels und die damit verbundene sexuelle Übergangserfahrung des „Erwachens“ steht in engem Verhältnis zu Lacans Theorie von „Spiegelstadium“, in dem das Kleinkind sich als „je“ konstituiert durch die Erfahrung der eigenen Gestalt im Spiegel. Auch bei Robbe-Grillet konstituiert sich das „je“ erst bei der Betrachtung im Spiegel, im Lancanschen Sinne eine „transformation produite chez le sujet, quand il assume une image“, Lacan 1966, S. 94.)

Dieses „je“ hält sich über die nächsten drei Abschnitte „Evasion“, „Retour à deux“ und „Innocence“. Der Spiegel wird wie der Traum in diesen Abschnitten zum Mittel der Flucht aus der Gefangenschaft und damit zum Übergang vom Objekt des Blicks zum Subjekt des Textes: „Je suis au-delà des parois de verre, de l’autre côté du miroir.“(S. 36, „Ich bin jenseits der Glaswände, auf der anderen Seite des Spiegels.“) Das Mädchen wird selbst zum Subjekt eines (begehrenden) Blicks, der sich zwar spiegelt, aber in der Imagination auf einem anderen, dem verdoppelten Körper der vermeintlichen „amante“ ruht: „je regarde celle, alanguie, qui fait semblant de s’endormir. Et lentement, de nouveau, ma main s’avance vers la chair nue...“ (S. 49, „Und ich betrachte sie, wie sie erschlafft daliegt auf dem zerwühlten Bett und so tut, als ob sie einschläft. Und langsam wieder streckt meine Hand sich aus nach der nackten Haut...“) Doch indem der Text der „jeune captive“ eine Stimme gibt, weckt er zugleich ein Misstrauen dagegen: spricht hier wirklich das zum Subjekt gewordene Objekt des Blicks, oder macht der Text das Mädchen auch zum Objekt der Textstrategie, also legt er nicht tatsächlich dem Mädchen Worte in den Mund, die mit der Vision konvergiert, die die Bilder von dem Mädchen entworfen haben, eben die der sich selbst entdeckenden Kindfrau, deren Sexualität sich nur im lesbischen Akt ausdrückt – und damit wiederum eine durchaus stilisierte männliche Sexualfantasie repräsentiert. Es entsteht also eine Spannung zwischen scheinbarer Übernahme der Subjektrolle (als Erzählinstanz des Textes sowie als Subjekt einer sexuellen Aktivität), und der erneuten Entfaltung eines Klischee-Bildes, das in der Subjektwerdung des Objekts eigentlich noch eine weitere Steigerung des Begehrens, das auf dieses gerichtet ist, intendiert.

Das „je“ scheint diese Spannung selbst im folgenden Abschnitt „Innocence“ zu reflektieren, indem es sich der vorher durch den Text inszenierten Bedeutungsebene der lesbischen (Selbst-)liebe plötzlich verwehrt:

Non! Tout cela est faux.
[...]
Il n’y a rien dehors.
Et ici, bien l’abri,
je suis seule, tranquille, inentamée.
Mon nom est Suzanne.
Je suis nue, mais intacte.
je suis innocente et dure.
Mes yeux sont vides.
(Rêves de jeunes filles, S. 63)

Nein ! Alles ist falsch!
[...]
Draußen ist nichts,
und hier drinnen bin ich allein,
geschützt, ruhig und unversehrt.
Ich heiße Susanne.
Ich bin nackt, aber unberührt,
unschuldig und gefühllos.
Meine Augen sind blind.

Das „Ich“ wehrt sich gegen die vorangegangenen Bilder und deren Interpretation durch den Text. Der eigene begehrende Blick, die angedeutete lesbische Liebe wird zurückgesetzt: „je suis seule“, „ich bin allein“. Gleichzeitig gibt sich das „Ich“ selbst einen Namen, den einzigen, der in dem Fotoband jemals neben dem Hamiltons in der „Introduction“ fallen wird – und markiert damit ein Aufbegehren gegen die reine, unpersönliche und austauschbare Objekthaftigkeit der jungen Mädchen.

Doch dieses „Aufbegehren“ bleibt höchst ambivalent und verweist einmal mehr auf das perfide Spiel, dass Robbe-Grillet hier mit den Bildern und der Vision von der nackten Frau treibt: zunächst einmal evoziert der Name „Suzanne“ einmal mehr das klischeehafte Bild der „papillons adolescents“, der „blutjungen Schmetterlinge“ auf dem „Kampus der schwedischen Schulen“. Und – der Titel „Innocence“ deutet dies bereits an – wirkt ihre Rede wie eine erneute Bestätigung des Frauenbildes von dem unschuldigen, „intakten“ Mädchen, dessen „yeux vides“ („leere, starre Augen“) sie wieder auszeichnen als prädestiniertes Objekt des voyeuristischen Blicks, denn ihre Augen blicken nicht zurück auf den sie begehrenden Blick. Doch direkt am Anschluss überschreitet der Text erneut die Ebene des Dargestellten zur Metaebene, indem die Stimme des „Ich“ plötzlich quasi „den Blick erhebt“ und unvermittelt den Betrachter selbst anspricht:

C’est vous, seulement,
qui posez sur mon corps ce regard troublé.
(Rêves de jeunes filles , S. 63)

Nur dein Blick verwirrt sich,
wenn er auf meinem Körper ruht.

Dieses direkte Ansprechen des Betrachters hat mindestens zwei Funktionen: Zunächst einmal werden die vorangegangenen „Szenen“ und Fotos, die die lesbische Liebesbeziehung evozierten, der Fantasie des Betrachters zugeschrieben. Er und seine Verdopplung der Fotograf bzw. Autor sind es, die ihre Visionen in die Bilder hineingetragen haben. Zweitens stört dieser Satz den kontemplativen Blick des Betrachters und produziert damit wortwörtlich einen „regard troublé“, den „verwirrten Blick“. Der einseitig ausgerichtete, selbst unsichtbare Fotografen-Voyeur-Blick wird zurückgeworfen durch das Objekt, dem der Text nun einen Namen und ein Bewusstsein von seiner Funktion als beobachtetes Objekt verleiht hat: Der Voyeur ist ertappt, seine Strategie, seine Visionen in das Objekt seines Blicks hineinzutragen, von diesem selbst durchschaut.

Doch der Text „reagiert“ gewissermaßen im Folgenden auf die direkte Anrede des Betrachters durch „Suzanne“ und die dadurch ausgelöste Blick- sowie Machverwirrung des „regard troublé“ mit einem weiteren, stark sexuell aufgeladenen Bild. Im folgenden Abschnitt „antwortet“ der Text durch eine weitere „männliche“ Vision vom jungen Mädchens: die Vorstellungen vom Schulmädchen, „L’ecolière“:

Petite fille sage, je vais chaque jour à l’école
et personne ne m’attend à la sortie du cours.
(Rêves de jeunes filles , S. 71)

Wie ein züchtiges kleines Mädchen
gehe ich jeden Tag in die Schule,
und niemand wartet auf mich nach dem Unterricht.

Zwar bleibt hier das „je“, das „Ich“ erhalten, aber es wird wieder zum Objekt einer Fantasie, die es fügsam erfüllt. Der zuvor von „Suzanne“ zum Voyeur-Betrachter erhobene Blick ordnet sich wieder dem männlich-repressiven Instanz unter, die im Bild des Professors zum Ausdruck kommt:

J’étudie aussi mes gestes, je corrige mes attitudes
en suivant les conseils de mon professeur;
je l’écoute en baissant les paupières, sans le voir,
comme on m’a appris à le faire,
[...]
(Rêves de jeunes filles, S. 71)

Ich achte auf meine Gesten und verbessere meine Bewegungen
nach den Ratschlägen meines Professors:
mit gesenkten Augenlidern höre ich ihm zu,
ohne ihn anzusehen, wie man es mich gelehrt hat;


Der „professeur“ leitet die Gestik, die körperliche Haltung des Mädchens an, gibt ihr Anweisungen, die das Mädchen, jetzt wieder mit gesengtem Blick ausführt. Die Situation ist nicht durch Zufall eine Metapher auf das Verhältnis Fotograf – Modell, in dem ebenfalls die „Körpergestaltung“ dem Mann „Hamilton“ überlassen ist, der sein Objekt ohne eigenen Blick inszeniert. In Klischeehaftigkeit übertrifft dieses Mädchenbild noch das der jungen Gefangenen und es stellt sich die Frage, wie die Vermittlung zwischen der auf ihre eigenen Objekthaftigkeit reflektierende „Suzanne“ und diesem erneuten restriktiven Bild zu Stande kommt, das durch seine hohe Stilisierung immer mehr von der ursprünglichen „Natürlichkeit“ der Fotos verliert. Wenn wir für einen Moment annehmen, dass das „je“ weiterhin dasjenige von „Suzanne“ ist, so ergäbe sich zumindest die Möglichkeit, dass das „je“ sich der durch es selbst repräsentierten Bilder bewusst ist und der Text mit seinen Frauenbildern ein Modell des Rollenspiels evoziert, in dem das „je“ die jeweiligen Rolle wie „Gefangene“, „Unschuldige“ oder „Schulmädchen“ übernimmt, um sie für den Betrachter zu inszenieren. Ein solches Rollenspiel wird in Les Demoiselles d’Hamilton tatsächlich entworfen, allerdings nur zwischen zwei Mädchen, nicht im Verhältnis zum Mann. Im Abschnitt Règele de jeu sind die „Spielregeln“ dieses Spiels festgehalten: hierbei spielt das Lesen und der Blick in den Spiegel eine große Rolle. Romantische Texte werden dabei „pervertiert“, indem einzelne Wörter gegen obszöne ausgetauscht werden sollen. Beide Mädchen spielen sich abwechselnd vor, zu schlafen, Berührungen zwischen den Körpern müssen wie zufällig erfolgen, etc. , also eben jene Strategien und Verhaltensweisen, die der Text in Rêves den Mädchen zuschreibt.

Das Durchbrechen dieses Spiels mit dem direkten Ansprechen des Voyeurs könnte dann ebenfalls Bestandteil des Spiels sein, das sich hierin als Spiel, als Inszenierung für beide Seiten zu erkennen gibt. Damit erweitert sich jene reflexive Dimension der Bildbände, die Nerlich attestiert hat, um diejenige der bewussten Inszenierung von sexuellen Klischeebildern, die Robbe-Grillet in den sado-masochistischen Rollenspiel-Inszenierung der Lady Ava in La maison de rendez-vous (1965) schließlich vollends entfaltet hat. Dabei geht es Robbe-Grillet aber sicher nicht nur um die einfache Reflexion auf die Hamiltonschen Frauenbilder, die der Text bewusst werden lässt. Vielmehr eröffnet sich eine weitere Ebene, auf der das Begehren eben durch die Reflexion auf sich selbst sowie die reflexive Haltung des vermeintlichen Objekts noch gesteigert wird. Die Inszenierung einer voyeuristischen Situation tritt an die Stelle der (illusorischen) Natürlichkeit der Situation. Die Subversion des robbe-grilletschen Textes erschafft damit eine weitere, reflexive Dimension des Begehrens gegenüber den Fotos.

Doch welche Rolle spielt nun der Fotograf selbst, der auf der Suche ist nach dem Ausdruck der Unschuld und dem Phantasma des sexuellen Erwachens. Bleibt er selbst als Person im Text und in den Bildern der Rêves unsichtbar, so wird er in dem eng an die Fotobände angelegten Teil „Zweiter Raum“ aus Ansichten einer Geisterstadt zu einer Figur des Textes selbst. In Rêves ist bereits die Topik der „grande maison“ etabliert worden, in dem der Fotograf-Jäger seine Objekte in Zimmer verteilt „aufbewahrt“. Doch wenn es sich, wie in Rêves angedeutet, um das Haus des Fotografen handelt, in dem er die „Versuchsanordnung“ des Zimmers eingerichtet hat, um sein Objekt beim Entdecken der intimsten Erfahrungen im Übergang von reiner Unschuld zu sexuellem Erwachen beobachten zu können, so ist es doch kein Ort wie die nüchterne Zelle bzw. das düstere Konvent aus Glissements progressifs, das von den männlichen Instanzen beherrscht wird. In Ansichten irrt „David H.“ geradezu ziellos durch die Gänge der lichtdurchflutenden und von der Sommersonne erhitzten „grande maison vide“. Seine Bewegung ist die eines Streifzugs, der sich über die verschiedenen Etagen des Hauses erstreckt. Er ist auf der Suche nach den „invisibles présences“, der „unsichtbaren Präsenz“ der jungen Mädchen, deren Gegenwart überall spürbar ist, obwohl sie selbst wie flüchtige Wesen dem Blick Davids immer wieder entfliehen. Die Mädchen sind als „somnambules“, „schlafwandlerisch“ oder als „fantômes“ charakterisiert, sind also Gestalten, die zwischen Traum und Erwachen gleiten. Sie scheinen den Mann niemals wahrzunehmen, selbst als eine von Ihnen ihm auf einem Flur begegnet: „Die weitgeöffneten Augen blicken starr, ein unmerkliches Lächeln fliegt über ihre Lippen, aber sie scheint nichts wahrzunehmen. Sie träumt.“ (Ansichten, S. 71)

Damit entsprechen die Mädchen genau dem Bild, nach dem David H. sucht, wenn er heimlich und lautlos die Zimmertüren in den verschiednen Stockwerken öffnet:

[…] die hintereinanderliegenden Zimmer, deren Türen David H. eine nach der anderen öffnet, auch er geräuschlos, so als hoffe er, jemanden beim Erwachen zu überraschen oder im noch von gaukelnden Phantomen bevölkerten Halbschlaf – zarten Silhouetten in langen Schleiergewändern [...] (Ansichten, S. 63)

Das Bild der Schlafenden bzw. gerade aus dem Schlaf erwachenden Frau verweist wieder auf die Übergangssituation einer in ihrer Sexualität erwachenden „Kindfrau“. In einem der Zimmer kommt es unter der heimlichen Beobachtung D.H.’s zu einer signifikanten Spiegelszene, die in drei Stationen aufgeteilt werden kann.

Zunächst betrachtet die junge Frau ihren nackten Oberkörper in einem großen rechteckigen Wandspiegel. Der sie beobachtende Blick des durch den Türspalt spähenden David H. interpretiert den Blick der Frau auf seine eigene Weise:

Das Mädchen ist damit beschäftigt, ihre sprossenden Brüste im Spiegel zu betrachten, gleichsam erstaunt über die ungebührliche Gegenwart dieser beiden kleinen Halbkugeln zarten Fleisches, die in dieser Nacht, während des Schlafes, aufgeblüht sein mögen. (Ansichten, S. 67)

Doch das Erstaunen, das der Blick im Gesicht des Mädchens erkannt haben will - so wird im Folgenden relativiert - ist eine reine Spekulation: „Aber das ist reine Vermutung, denn ihre Gesichtszüge drücken in Wirklichkeit kein Gefühl von Überraschung aus, auch nicht von Befriedigung oder Abscheu oder Unruhe oder irgendetwas anderem.“ (ebd., S. 67) Der Text übernimmt mit der Relativierung der Interpretation eine Funktion, die im Fotoband die Fotos selbst übernehmen konnten: er liefert nach, was eigentlich nur zu sehen ist, unabhängig vom interpretativen Blick, der im Text des Bildbandes angelegt war und hier statt von einem Foto von einer genaueren Beschreibung konterkariert wird.

Das Mädchen wendet den Blick schließlich von ihrem Spiegelbild ab und blickt direkt auf ihre Brust und berührt diese mit ihrer Hand. Das sexuelle Erwachen überträgt sich vom Spiegelbild auf den eigenen Körper: das Bild des Körpers steht vor der Konstitution des eigenen Körpers. Als das Mädchen wieder von ihrem Körper in den Spiegel blick, passiert etwas Unerwartetes:

Der Kopf aber wendet sich, ohne die mindeste Überstürzung, ein wenig nach rechts [...] und die großen, weitgeöffneten Augen begegnen im Spiegel, ohne jedes Blinzeln dem Blick des Mannes, der sich im Rahmen der offenen Tür abzeichnet. (Ansichten, S. 68)

Doch selbst für den männlichen Blick irritierend, ist die Reaktion des Mädchens, als sie den „Voyeur“ ins Auge sieht, weder Erschrecken noch Verwunderung:

Das junge Mädchen stößt keinen Schrei aus, gibt kein Zusammenzucken des Körpers oder des Gesichts zu erkennen, als sie dieser plötzlichen, unerwarteten, indiskreten Gegenwart gewahr wird – oder aber dieser erwarteten und seit langem über die Schulter erahnten, dieser sogar bereits aus dem schwachen Quietschen des Porzellanknaufs, dem leisen Knirschen der Türangeln oder auch nur dem Lufthauch im Zimmer erschlossenen Gegenwart. (Ansichten, S. 69)

Der Text provoziert Fragen: Fühlt sich das Objekt des Blicks tatsächlich gar nicht unbeobachtet, ist sich das Mädchen der Gegenwart des Voyeur-Blicks immer schon bewusst? Ein „vielleicht unschuldiges, vielleicht komplizenhaftes Lächeln“ (ebd., S. 70) macht dieses ambivalente Verhältnis zwischen David H. und dem Mädchen wahrscheinlich. Damit eröffnet sich einmal mehr die Dimension der Inszenierung für den Blick. Die Mädchen Hamiltons, die scheinbaren Objekte, die dem körperlosen, unsichtbaren Auge des Voyeur-Betrachter-Subjekts ausgeliefert scheinen, ohne sich dessen bewusst zu sein (sie wissen nicht, warum sie gefangen sind), bekommen in der Interpretation Robbe-Grillets eine eigene, erweiterte Dimension, in der sie sich des Blicks, der auf sie lauert, bewusst sind. Doch anders als Alice spielen sie das Spiel mit, sie geben dem Blick das Bild zurück, das er nur durch die heimliche Beobachtung zu erhalten glaubt. Das Bild wird nicht zerbrochen, wohl aber reflektiert und teilweise pervertiert, wenn die totale Hingabe des Objekts an das Subjekt sich selbst tarnt als die Natürlichkeit und Unschuld, die der Blick in das Objekt erst hineintragen will. Als es in der Spiegelszene schließlich beinahe zum direkten Augenkontakt zwischen dem Mädchen und ihrem Beobachter kommt (sie wendet langsam ihren Blick vom Spiegel ab hin auf den Türspalt, wo sie den Blick des Mannes erspäht hat), gibt es natürlich keine Konfrontation: Der Mann hat seinen Streifzug bereits wieder fortgesetzt, der Türrahmen bleibt leer; der Fotograf ist ein ähnlich flüchtiges Wesen wie seine Modelle.

Dass sich die Mädchen auch in Rêves dem mechanischen Auge (des Fotoapparates) bewusst sind, das sie jederzeit beobachtet und zum Objekt macht, macht gegen Ende der Abschnitt „Abandon“, „Hingabe“, deutlich, der gleichzeitig ihre Hingabe an das Auge, den fotografischen Blick, expliziert:

Lasse à la fin de regarder cet œil
indéchiffrable qui l’épie,
elle se détourne en haussant les épaules,
elle s’enroule sur elle-même,
elle fait semblant de s’endormir.
Elle ne veut plus même entendre
la paupière à déclic qui s’ouvre
et se referme périodiquement sur sa proie.
Absente et offerte, candide, indifférente,
elle laisse faire d’elle en rêve ce qu’on veut.
(Rêves de jeunes filles, S. 115)

Endlich überdrüssig, in dieses rätselhafte
Auge zu blicken, das sie belauert,
wendet sie sich schulterzuckend ab,
sie rollt sich zusammen,
und sie tut, als schlafe sie ein.
Sie will es nicht einmal mehr hören
das klickende Augenlid, das sich unaufhörlich
öffnet und schließt über seiner Beute.
Entrückt und hingegeben, arglos und unbekümmert,
läßt sie im Traum mit sich geschehen, was man will.

Das „So-tun-als-ob-man-schlafe“ ist eine Strategie der Mädchen, die in den Texten sehr oft zum Tragen kommt. So z.B. in dem Textteil „Retour à deux“ in Rêves, wo sich die „amante“ des „je“ ins Gras niederlegt: „je regarde celle, alanguie, qui fait semblant de s’endormir“ oder auch in Ansichten, wo in einem anderen Zimmer zwei Mädchen dasselbe Ritual vollziehen. Dem Vorgeben-zu-schlafen liegt wieder eine ambivalente Strategie zugrunde: einerseits demonstriert es das Abwenden vom Gegenüber, von der Kamera oder der Freundin, andererseits ist es gleichzeitig eine Aufforderung an den oder die Andere, sich ungestraft, v.a. ungesehen und unbemerkt dem fremden Körper zu nähern, ihn zu berühren oder mit der Kamera zu erfassen, was letztendlich zwei ähnliche Annäherungen sind. Damit konvergiert dieses Vorgehen, das vom Text als bewusste Inszenierung des jeweiligen Objekts vorgestellt wird, mit den „yeux vides“, den „leeren Augen“ und dem abgewendeten Blicken der Hamiltonschen Mädchen.

Das Nicht-Sehen, der leere Blick, den Nerlich als das Charakteristische im Verhältnis Fotograf – Objekt bei Hamilton herausgestellt hat, wird einerseits durch die robbe-grilletschen Texte unterstrichen und herausgestellt, andererseits aber auch als Strategie der Inszenierung gedeutet, eine Inszenierung, die dem Objekt die Natürlichkeit und Unwissenheit der eigenen Objekthaftigkeit für den Voyeur abspricht und beide Pole in die Inszenierung des Blicks auf die nackte Frau einbezieht. Das „unschuldige“ hamiltonsche Mädchen nähert sich damit immer mehr dem sich bewusst inszenierenden Modell, das seine Rolle nur spielt, immer um seine Wirkung auf den Fotografen-Betrachter wissend.

Der Blick auf die nackte Frau, den Robbe-Grillet in den Texten zu Hamilton thematisiert, ist der des Voyeurs, ein Blick, der sich selbst unter der Strategie der natürlichen Darstellung seiner Objekte kaschiert, um seinem Begehren Ausdruck verleihen zu können. Dieser Blick konstituiert sich nicht zuletzt durch das Nicht-Zurückblicken der jeweiligen Objekte, fast sogar durch die vollständige Aussparung der Augen selbst des Objekts. Robbe-Grillet erweitert dieses Blickverhältnis nun aber um die Dimension des sich des Blicks durchaus bewussten Objekts. Der Blick auf die nackte Frau ist zwar ein heimlicher und damit ein Voyeur-Blick, ist aber immer schon gebrochen durch ein Objekt, das selbst zumindest das Potential hat, zum Subjekt der Inszenierung werden zu können. Das bedeutet aber keinesfalls eine Befreiung des Objekts, sondern einen anderen Blickwinkel auf die Inszenierung des Begehrens, das sich um eine reflexive Ebene erweitert. Eine Ebene, die das Spiel des Voyeurs als Rollenspiel etabliert, in dem beide Seiten des Blicks bewusster Bestandteil der Inszenierung sind, doch in dem die Kaschierung dieses Bewusstseins im Modus der illusorischen Natürlichkeit des Models und der Unsichtbarkeit des Blickenden als Voraussetzung des Begehrens fest integriert sind.

Auch öffnen die Fotobände mit ihrem spannungsreichen Spiel zwischen Bild und Text die Thematik um („subjektive“) Imagination und („objektive“) visuelle Darstellung, die sich bei den Hamiltonschen Fotobänden durchdringen und gegenseitig kommentieren. Dabei übt der Text eine subversive und imaginative Veränderung der Bildwahrnehmung aus, die „die Bilder pervertieren, multiple Geschichten erzählen.“ (Dümchen 1994, S. 142) Gleichzeitig bilden die Bilder jedoch auch die Grundlage der Imagination, die wiederum die Wahrnehmung der Bilder selbst verändert und ihre Bedeutung „umschreibt“.

Literatur:

Hamilton, David; Robbe-Grillet, Alain: Rêves de jeunes filles, Robert Laffont: Paris 1971(dt.:
(Mädchenträume. Von David Hamilton und Alain Robbe-Grillet, Econ Verlag: Düsseldorf / Wien 1971)
Hamilton, David; Robbe-Grillet, Alain: Les demoiselles d’Hamilton, Paris: Laffont 1972
Ionesco, Irina; Robbe-Grillet, Alain: Temple aux miroirs, Paris: Seghers 1977
Robbe-Grillet, Alain: Topologie d’une cité fantôme, Ed. de Minuit: Paris 1976 (dt.: Ansichten einer Geisterstadt, Hanser: München 1977)
Dümchen, Sybil: Das Gesamtkunstwerk als Auflösung der Einzelkünste: zur subversiven Ästhetik Alain Robbe-Grillets, Marburg: Hitzroth 1994
Koppen, Erwin: Literatur und Photographie. Über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung, Stuttgart: Metzler 1987
Lacan, Jacques: „Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je“, in: ders.: Écrits, 1966, S. 93-100
Nerlich, Michael: „Hermaphrodit und Kindfrau. Arabesken zu Irina Ionesco / David Hamilton und Alain Robbe-Grillet“, in: Lendemains 20, 1980, S. 45-55

Ein weiterer Text über Robbe-Grillet findet sich hier.