Anm. d. Red.: Dies ist die leicht gekürzte Fassung eines Textes, der zuerst in dem Buch Horst Fritz (Hrsg.): Montage in Theater und Film, Tübingen 1993, S. 229-248, erschien. Dank geht an den Autor für das freundlichen Einverständnis zur Wiederveröffentlichung. Dr. Bernd Kiefer doziert Filmwissenschaft an der Universität Mainz.

Bernd Kiefer

Kulturmontage im Posthistoire

Zur Filmästhetik von Hans Jürgen Syberberg

 

 

Liest man die heute schon reichlich nostalgisch angehauchten Rückblicke auf die Blütezeit des Neuen deutschen Films in den siebziger Jahren, dann stößt man auf die Namen Fassbinder, Schlöndorff, Wenders und Herzog, vielleicht noch Kluge und Schroeter. Kaum aber noch fällt der Name Hans Jürgen Syberberg. Das ist um so erstaunlicher, da Syberberg damals im Ausland – und wo sonst, wenn nicht im Ausland, galt der Neue deutsche Film als das, was er in der Bundesrepublik nie war: als kulturelle Dominante – als der deutsche Filmemacher schlechthin angesehen wurde. Seine Filme LUDWIG – REQUIEM FÜR EINEN JUNGFRÄULICHEN KÖNIG (1972) und KARL MAY (1974) wurden in Paris fast euphorisch gefeiert. In Syberbergs folgendem opus magnum, dem siebenstündigen HITLER, EIN FILM AUS DEUTSCHLAND (1977), erblickte Susan Sontag in einem weitausholenden Essay gar „das ehrgeizigste symbolische Kunstwerk unseres Jahrhunderts“, das, so schließt sie, „zu jener Kategorie nobler Meisterwerke“ gehöre, „die unbedingte Ge-folgschaft verlangen und sie auch erzwingen können“. (Neben Susan Sontag äußerten sich auch Michel Foucault, J.-Pierre Faye, Alberto Moravia und Heiner Müller sehr positiv über den HITLER-Film, vgl. Eder 1980.)

Solche Gefolgschaft jedoch wurde Syberberg in der Bundesrepublik verweigert. Der deutschen Filmkritik galt und gilt er als Wirrkopf. Antiaufklärerisches Pathos, Manierismus, Geschichtsklitterung, Geschwafel oder schlicht Dummheit warf die Kritik Syberberg dort vor, wo Susan Sontag romantische Ironie, surrealistische Kombinatorik und ein kompliziertes „Montageprinzip“ erkennt, Ele-mente der ästhetischen Avantgarde, die aus dem Film ein „Mosaik von Stilzitaten“ machen. Freilich, auch Sontag entgeht nicht der Mangel an ge-danklicher Reflexion, die Stillstellung von Reflexion in überladenen Bildern, hatte Syberberg doch geschrieben, Hitler bekämpfe man nicht „mit Auschwitzstatistiken und der Soziologie seiner Wirtschaft, sondern mit Richard Wagner und Mozart“, mit den „Traditionen unserer Mythen“ und den „Kitsch-Welten, die einmal staatstragend waren“. – „Eine Montage mit den filmischen Mitteln des Irrationalen“, mit „Bausteine(n) mythischer Welten“: so hat Syberberg die Ästhetik seiner Filme LUDWIG, KARL MAY, HITLER und PARSIFAL (1982) umschrieben, jener Tetralogie, die er als „Arbeit der Trauer“ über den Untergang Deutschlands, schließlich in PARSIFAL und in DIE NACHT (1985) als Abschied von der untergehenden abendländischen Kultur versteht. Film als Montage „auf der Basis europäischer Kulturasso-ziationen“, nachdem nur noch „die Trümmer der Geschichte“ geblieben sind, und „Irrationalismus in der Montage meiner Filme“, dies sind die Prinzipien der Syberbergschen Filmästhetik, die „in irritierender Unruhe“ sich „als ästhetische Nachfolge der 68er Generation und der Popkultur“ ausgibt und zugleich den Anspruch des filmischen Gesamtkunstwerkes auf Weltdeutung aufrechterhält.

Konnte Syberberg in der Tat hoffen, mit diesem ästhetischen Willen zum Mythos, der den Wahnwelten Ludwigs II. und den Phantasmagorien Karl Mays durchaus angemessen war, auch dann auf Ver-ständnis zu treffen, wenn er Hitler sich als Sujet wählt? Es stellt sich die Frage nach dem Geschichtsverständnis Syberbergs, die Frage nach dem Verhältnis seiner Filmästhetik zu Geschichte und Politik. Syberberg hat sich in seinen Büchern und in Interviews stets aufsehenerregend zwiespältig politisch geäußert. Insbesondere seine Haltung zum Nationalsozialismus muß als für ihn beschämend angesehen werden. In diesem Text geht es jedoch nicht um den politischen Stellenwert von Syberbergs Äußerungen, sondern um den politischen Impetus seiner Ästhetik, seines Werkes.

Montage, Irrationalismus, Mythos – schon dies ist eine Verbindung von „irritierender Unruhe“, ist selbst eine Montage von Heterogenstem. In der klassischen Montage-Theorie von Eisenstein bis Bloch und Adorno kommt der Montage eine entmythisierende Funktion zu – sie sprengt als Logik des Produziertseins des Werkes falsche Totalität, oktroyierten Sinn, um eine andere, verdrängte Wahrheit einsichtig zu machen. Der Montage-Begriff, wie ihn diese Theorie-Debatte konzipierte, steht im Schnittpunkt erkenntnistheo-retischer und geschichtsphilosophischer Überlegungen und verweist auf den Konnex von ästhetischer Avantgarde und avanciertestem gesellschaftlichen Bewußtsein. Damit aber wird diese Montage-Theorie selbst historisch anfällig: Sie steht und fällt mit einer Deutung der Moderne, die darauf setzt, daß Geschichte, Sinn und Subjektivität nicht nur theoretisch erfaßbare Phäno-mene sind, sondern daß auch deren Potentialität im Medium des Ästheti-schen sich erkennend aus dem ideologischen Verblendungszusammenhang befreien läßt.

Montage-Kunst ist so zum ästhetischen Korrelat des ge-schichtsphilosophisch ins Offene gedachten Projektes der Moderne gewor-den. Schwindet dieses geschichtsphilosophische Vertrauen zum Bewußtsein, daß nur noch die „Erinnerung an die Geschichte“ geblieben ist, dann er-fährt Montage eine Umfunktionierung. Sie zielt auf die „assoziativ unent-wirrbare(n) Vertiefung eines epischen Kosmos“ zur Raum-Zeit-Simulta-neität, in der Geschichte zur synchronen Fläche ästhetisch disponiblen Sin-nes wird. Geschichte als „environment“, das war aus der „Junk-Art“ eines Edward Kienholz etwa geläufig. Was Syberberg aber schon in LUDWIG, seiner Vision des bayerischen „Märchenkönigs“, mit den Rück-Projektionen, mit der Ton-Montage, mit der Bild-Montage von Nibelungenmythos, Kunstwelten des späten 19. Jahrhunderts, Folklore, Kitsch und Nazismus zu einer Phantasmagorie deutscher Träume und Alpträume zu verdichten trachtete, was in KARL MAY, HITLER und PARSIFAL dann zu montierten Panoramen des Steinbruches der Geschichte wurde, das ist als Montage-Kunst nicht mehr auf ein rationales Deutungsmuster von Geschichte und von Sinn der Ge-schichte beziehbar. Syberberg sieht Geschichte als einen katastrophalen Prozeß, dem nur ein mythisch-ästhetisches Montage-Denken noch letzte Bilder entreißen kann. „Montage stand an der Wiege des Films, der Schnitt ist sein Herzschlag und die Wiedergewinnung der Aura des Mythos ein ho-hes Ziel“. Es ist Syberbergs filmischer „Wille zum Mythos“, der seine Montage-Ästhetik trotz gelegentlicher Hinweise auf Eisenstein, Brecht und Benjamin zu deren Theorien in Widerpart setzt. Nur konsequent, daß Syber-berg sich und seine Ästhetik zur „Anti-Moderne“ rechnet.

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Um Syberbergs Anti-Modernismus zu erfassen, ist ein Rückblick auf die Entwicklung der Montage-Theorie nötig. Schon in Grabbes Historiendramen lassen sich Frühformen der Montage, Antizipationen erkennen, die sich einem chaotischen Geschichtsbild verdanken, dem Telos und Sinn der Geschichte sich in der Diskontinuität und Heterogenität immens beschleunigter Abläufe des Geschehens verflüchtigen. Die-ser Geschwindigkeits-Koeffizient der historisch-sozialen Prozesse wurde selbst der Historiographie zum Problem. Daß ganz neue Rhythmen die Geschichte bewegen, daß jedes Geschehen derart mannigfaltig ist, daß Details kaum zur Einheit sich runden und – narrativ – runden lassen, dies bekundet schon der große Historiker Jules Michelet. Die Heterogenitat und Widerstrebigkeit der historischen Kräfte kann nur punktuell noch erfaßt werden, im kleinsten Ausschnitt, gleichsam im „Sekunden-Stil“. So spielte Michelet mit dem Gedanken, seine Geschichte der Französischen Revolution nicht nach Jahren, sondern nach Tagen, fast nach Stunden zu schreiben, um der Vielfalt der Ereignisse gerecht zu werden. Nur so ließ Sinn, ließ die historische „Wahrheit“ sich überhaupt noch konstruieren. Für ein gänzlich anderes Medium der Darstellung von Realität hat Michelet die Probleme erkannt, auf die die Montage-Theorie und Montage-Kunst dann reagierten: die Frage, wie immens dynamisierte Abläufe in ihrer Diskontinuität und Widersprüchlichkeit noch darstellbar sind.

Diese Problematik durchzieht die gesamte Filmtheorie Sergej Eisensteins. Der Film als das „urbanistische Kunstwerk(e)“ der Moderne ist geprägt vom ungeheuren Tempo der Zeit und von den Antagonismen der Realität. Wenn Eisenstein der Montage-Technik von D. W. Griffith vorhält, sie sei „eine Schule des Tempos und nicht des Rhythmus“, dann beklagt er die mangelnde intellektuelle Durchdringung der gesellschaftlichen Widersprü-che, die den Rhythmus der Zeit ausmachen. Indem Eisenstein diesen Mangel der bürgerlichen Ideologie Griffith‘ anrechnet, expliziert er zugleich die erkenntnistheoretische und geschichts-philosophische Position, die seiner Montage-Theorie das Fundament gibt. Rhythmus der Montage meint eine „organische Einheitlichkeit“, eine Einheitlichkeit im Spiel der Gegensätze, eine Einheitlichkeit der Erscheinung der Realität, die in ihren Widersprüchen erkannt, gespalten, neu zusammengesetzt und so neu begriffen wird. Montage im Sinne Eisensteins gestaltet die historischen und sozialen Widersprüche, die dialektische Logik von Geschichte und Gesellschaft; sie setzt eine ideologische Konzeption in schnelle Bilder um und vertraut auf einen kon-struierbaren Sinn von Geschichte: Montage entmythisiert, indem durch dialektische Logik die Tiefenstruktur der Wirklichkeit erkennbar wird.

Die gesamte „klassische“ Montage-Diskussion der zwanziger und dreißiger Jahre kreist um dieses Vertrauen in die Zielgerichtetheit der Geschichte, in erkennbaren, darstellbaren und ästhetisch vermittelbaren Sinn. Von Ei-senstein und Brecht gleichermaßen inspiriert, hat Ernst Bloch Montage als Konstruktion und Erkenntnisvermittlung begriffen. Als „konstitutive Montage“ ist sie ästhetische Produktivkraft und Politikum zugleich, denn sie baut aus den Bruchstücken der Wirklichkeit neue Zusammenhänge auf; sie funktioniert das Material, mit dem sie schaltet, derart um, daß die Wirklichkeit, ästhetisch gegen den Strich gebürstet, die in ihr liegenden Möglichkeiten aufscheinen läßt. Nichts anderes als die „revolutionäre Geburt der künftigen Gesellschaft und Welt in der jetzigen“ soll Montage befördern. Überdeut-lich ist das geschichtsphilosophische Pathos, das Montage hier zur ästhe-tisch-politischen Produktivkraft der Moderne designiert.

Der dieser Kon-zeption immanente Rationalismus spricht sich in Walter Benjamins Bestim-mung der Montage aus. Montage sprengt „mit dem Dynamit der Zehntelse-kunden“ die Realität dergestalt auf, daß – wie in einem naturwissenschaft-lichen Experiment – „neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein kommen“, die auf ihr revolutionäres Potential zu befragen sind. Montage „verwissenschaftlicht“ und politisiert die Kunst — bis hin zur Pariser Gruppe „Cinéthique“ bleibt dies der „harte Kern“ der klassischen Montage-Diskussion als Paradigma einer avantgardistischen und zugleich politischen ästhetischen Praxis. Freilich, dem späten Benjamin war das Zutrauen in die konstruktive und geschichtstreibende Kraft der Montage schon geschwunden. In der Passagen-Arbeit, seinem großen Versuch zur Rekognoszierung der Moderne, montiert Benjamin den „Abfall der Geschichte“. Die Hoffnung, daß Montagebilder eine andere Konfiguration von Realitätspartikeln offenbaren, die unmittelbar politische Erkenntnis motiviert, war dahin. Michelets Problem, wie die in sich zerrissene Moderne historiographisch-narrativ Gestalt annehmen kann, wurde zum Problem der Montage als Sinn-Konstruktion. Was geschieht mit der Montage, und was geschieht durch Montage noch, wenn die Einsicht, die in ihrem Ursprung steht, die Einsicht, daß einem beschleunigten und jede Einheitlichkeit entbehrenden historisch-sozialen Prozeß nur mit schnellen, diskontinuierlichen Bildern beizukommen ist, wenn man Sinn, Telos und Wahrheit heraustreiben will, ungewiß wird? Was ge-schieht mit Montage, wenn die Gewißheit schwindet, daß überhaupt ein Sinn ist, der konstruiert werden kann?

Daß dies keine rhetorischen Fragen sind, kann man den Überlegungen zur Montage-Theorie entnehmen, die der stets hellsichtige Siegfried Kracauer schon zwischen 1928 und 1938 an-stellte. In seiner Kritik von Walter Ruttmanns Montage-Film BERLIN - SYM-PHONIE EINER GROßSTADT (1927) beklagt Kracauer – wie Eisenstein bei Grif-fith –, daß die Montage von Details der Realität nicht einen sinnvollen Zusammenhang der Realität aufdecke, sondern alle Partikel unverbunden ne-beneinander stehen lasse. Ist diese Kritik noch motiviert vom großen Vorbild der sowjetischen Montage-Filme, so gerät dieses Denkmal zehn Jahre später erheblich ins Schwanken. Anläßlich eines Wiedersehens der frühen Filme Pudowkins bemerkt Kracauer, daß Montage hier nicht einen vorfindbaren Sinn erkennend aus der Verzerrung befreit, sondern subjektiv setzt. Pudowkins Montage „veranschaulicht“ nur, „was er für den Sinn des Geschehens hält“. Selbst Eisenstein ist der Kritik nun nicht mehr enthoben, entdeckt Kracauer doch jetzt in der Methode der Montage die Präponderanz einer Geschichts- und Erkenntnistheorie, die immer schon weiß, welcher Sinn dem Geschehen zu entnehmen ist. Was Kracauer in Frage stellt, ist das ideologische Fundament der Montage-Konzeptionen, das einer historischen Situation entspringt, „die von revolutionären Energien bebt“, das aber zum Dogma wird, wenn der Realität alle vitalen Energien abhanden kommen. wenn die Realität nicht mehr auf einen Nenner gebracht werden kann. Dann läuft Montage leer und wird zu tableaux vivants.

Kracauers Interpretation der Montage ist signifikant, fragt sie doch nach der Erkenntnisleistung von Montage-Kunst unter Bedingungen, unter denen die Realität, die Montage noch ästhetisch bewältigte, ihren Aggregatzustand völlig veränderte. Wird Sinn disponibel, tendiert Montage zur Anschauung ohne Begriff. Im Wandel der Montage-Theorie von der Sinngebung des ohnehin Sinnvollen über die Sinngebung des Sinnlosen bis zu Adornos Auffassung, Funktion der Montage sei es, „den Sinn (zu) negieren“, spiegelt sich die Krise der progres-sistischen Geschichtsphilosophie und der ihr sekundierenden optimistischen Erkenntnistheorie der Moderne. Seit Anfang der siebziger Jahre schießen Montage-Definitionen ins Kraut unentwirrbaren Dickichts; die Montage-Theorie selbst ist jedoch ins Stadium der Historisierung eingetreten. Als Peter Bürger 1974 in seiner Theorie der Avantgarde Montage noch einmal zum Grundprinzip der avantgardistischen Kunst ausrief, hielt er ihr zugleich den Nekrolog, denn er konstatiert das Scheitern der Avantgarde. Mit einer einschneidenden Veränderung der historischen Konstellation, für die sich die Begriffe Postmoderne und Posthistoire eingebürgert haben, geht ein Wandel des Geschichtsbewußtseins und des ästhetischen Bewußtseins einher, dem alle Sinn-Konstruktionen suspekt sind, die auf theoretischen Totalitätskonzepten beruhen. So war es nur konsequent, daß Andreas Kilb, ausgehend von Bürgers Montage-Begriff und Benjamins Allegorie-Theorie, die Vorbild Bürgers war, die allegorische Phantasie zum Kennzeichen einer Ästhetik der Postmoderne machte. Hat Geschichte sich zur blinden Mitte des bewußtlo-sen Augenblicks, des reinen Moments zusammengezogen, ist also alle Dy-namik in ihr zum Stillstand gekommen, wird Montage im klassischen Sinne kraftlos. Sie weicht einem allegorischen Bewußtsein, das die Trümmer der Geschichte zu einer räumlichen Figur zusammensetzt. In dieser Simultanität kann, von allen Sinnpostulaten befreit, jeder Partikel zu jedem anderen in eine assoziative Beziehung treten. Geschichte steht still; ihre Bestände treten ein in das unbegrenzte Spiel ästhetischer Konstellationen.

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Von dieser Überführung des modernen Montage-Konzeptes in das post-moderne allegorische Bewußtsein füllt Licht auf Syberbergs anti-moderne Montage-Ästhetik. Sie setzt auf irrationale Potentiale des Traums, nicht auf rationale Durchdringung der Tiefenstrukturen des Realen. Sie verzichtet auf die Gestaltung einer organischen Einheitlichkeit der Widersprüche, auf dialektische Logik des Heterogenen, und favorisiert die Intensität der Assozia-tion. Nicht um rationale Erkenntnisvermittlung geht es Syberberg, sondern um irritierende Unruhe. Vor allem aber gibt er der Auffassung den Abschied, Geschichte besitze eine sinnstiftende, einheitliche Struktur.

Es ist überraschend und nicht ohne Pikanterie, daß 1972, in dem Jahr, in dem Sy-berbergs LUDWIG entstand, Jürgen Habermas, freilich ohne auf Syberberg einzugehen, den historischen Ort dieses Films und der Syberbergschen Montage-Ästhetik recht präzise bestimmte: „an der Schwelle des posthi-stoire, wo die symbolischen Strukturen verbraucht und durchgescheuert, ihrer imperativen Funktionen entkleidet sind“. Das war eine etwas abge-klärte Definition des Posthistoire; bei Syberberg ist immerhin von dem Scheitern aller historischen Utopien die Rede, von einer „Apokalypse“ und von der „Ahnung vor der Zukunft des Endes aller Geschichte“. Dies Vergehen der Geschichte wird von Syberberg zunächst als Entlastung emp-funden, als Befreiung von unseren „mißbrauchten Utopien und Ideen“. Deren Kalvarienberg zeigt Syberberg im PARSIFAL, seiner Adaption der Wagner-Oper. Dort steht Klingsor auf einem Fels, zu seinen Füßen die (abgeschlagenen?) Köpfe von Aischylos, Marx, Nietzsche, Wagner und Ludwig II., in Rückprojektion montiert mit der „Liberté“ von Delacroix und dem Christus-Kopf von Leonardo: das Abendland als Trümmerfeld. Ein solcher Blick auf die Geschichte, ein solches posthistorisches Geschichts-verständnis bedingt eine andere Ästhetik als die geschichtsphilosophisch-optimistische des forcierten Modernismus; ja – erst das Überschreiten der Schwelle zum Posthistoire setzt als letztes verbleibendes Gedächtnis das der Kunst, des Filmes und der Kulturmontage in ein neues Recht. Film sammelt die Spuren einer verschwindenden Welt. Was Syberberg montiert, das sind die frei gewordenen Möglichkeiten in einer Trümmer-Welt, das sind die as-soziativ aufgerissenen Räume zwischen den partikularen Bruchstücken von Geschichte und Kultur. Keine bewegte Welt mehr zeigt Syberbergs Monta-ge, kein dynamisches in die Zukunftstürzen, sondern Geschichte wird hier zum Zeit-Traum. Arbeit an und in der Geschichte weicht der ästhetischen Traum-Arbeit mit den Resten des Wachbewußtseins, das einmal Geschichte war.

Arnold Gehlen schreibt 1961 in dem Vortrag Die gese1lschaftliche Situa-tion in unserer Zeit: „Je weiter die Zeit fortschreitet, um so deutlicher wird daher die echte Überlieferung der europäischen Geschichte in der Vergangenheit verschwinden, d. h. sie wird wie die griechische zum Bildungsgut umgeformt und moralisch wie praktisch unverbindlich werden [...] Schließlich taucht sogar der Gedanke als möglich auf, daß wir die Schwelle zum post-histoire, zu einem nachgeschichtlichen Zustand bereits überschritten haben könnten.“ Gehlen macht hier die in sich beschleunigte Zeit, die beschleunigte Ge-schichte der neuzeitlichen Moderne, für das Verschwinden der Geschichte überhaupt verantwortlich. Die rasende Geschichte wird autodestruktiv, verzehrt sich selbst. Gehlen hat für diesen Zustand den Begriff der „kulturellen Kristallisation“ geprägt: „Ich exponiere mich also mit der Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist und daß wir im Posthistoire angekommen sind, so daß der Rat, den Gottfried Benn dem einzelnen gab, nämlich 'Rechne mit deinen Beständen‘, nunmehr der Menschheit als ganzer zu erteilen ist.“

Alle geschichtlichen Möglichkeiten und auch alle Alternativen sind durchgespielt und realisiert worden; alles war schon da und ist nun ausgeschöpft – kristallisiert. Nichts ist mehr zu erwarten. Vor allem die großen „Schlüsselattitüden“ haben abgedankt, die aus Vielfalt Einheit, aus Interruptionen Kontinuität stiften wollten. Was im Zustand der Kristallisation von Geschichte und Kultur noch bleibt, das ist „das aufgestöberte Durcheinander von allen Ideen und Motiven aus allen Zeiten und Windrichtungen“. Nach dem Ende der „Schlüsselattitüden“ kommt es nun der Kunst zu, einen Kern-bestand, wie Gehlen formuliert, „mit reizvoller Unverantwortlichkeit“ zu „umspielen“. Wir sind hier nahe bei dem, was Syberberg die assoziative Montage nennt, die die historisch-kulturellen Bruchstücke aus dem chronologischen Nacheinander herauslöst, um sie in der filmischen Tiefe des leeren Raumes dann simultan montieren, umspielen zu können.

Im aufgestöberten Durcheinander von allen Ideen und Motiven wird Ge-schichte letztlich zum Mythos. Das ist die Pointe neuerer Posthistoire-Dia-gnose, die Lutz Niethammer schon der Eindeutschung von „la posthistoire“ in „das Posthistoire“ abliest. Offenbar soll, so Niethammer, „wo sie war, 'es‘ werden“, das Mythische, das kollektive Unbewußte, das Träumen und Phantasieren, das sich der Vernunft in der Geschichte lange unterwerfen mußte, nun aber, unter den Trümmern, wieder zum Vorschein kommt. Syberbergs posthistorischer Wille zum Mythos zielt auf dieses Unbewußte, auf das Irrationale des unreglementierten Wunsches, der Geschichte zu entragen. Deshalb sind seine Helden Ludwig II., nicht Bismarck, Karl May, nicht Fontane; und deshalb auch „Hitler“ nicht als Geschichte eines Menschen, sondern als „Menschheitsgeschichte“, „die Katastrophe als Film. Weltunter-gang, Sintflut, Kosmos im Verenden“. Syberbergs filmischer Wille zum Mythos ist der Wille, der Geschichte jede Dynamik auszutreiben, sie zum Stillstand zu bringen in Tableaux, in denen die Zeit zum Raum wird. Daher rührt sein anti-moderner Affekt gegen die Montage-Konzeption Eisensteins, überhaupt gegen die Auffassung, „Kino sei Bewegung“, gegen Montage als Beschleunigungsbild. In jeder Beschleunigung erkennt Syberberg den ästhetischen Reflex der alles auslöschenden Zeit der Moderne, den Reflex einer gestückelten Zeit, die ihrerseits zergliedert und auslöscht. Für Syber-berg hat das (Montage)-Kino selbst zum Verschwinden der Geschichte bei-getragen. Es hat tabula rasa gemacht, als es meinte, Geschichte in einer ob-jektiven Form — als Zeit-Bild gleichsam — darstellen zu können. Nun haben wir nur noch „die Trümmer der Geschichte (...) und müssen nun die Mythen darunter suchen“.

Syberberg spricht neuerdings von einem „Lebensmodell Kunst“, das als „Erkenntnis-Erinnerung“ fungieren soll, als letztes Gedächtnis im Posthi-stoire. „Erkenntnis-Erinnerung“ hat nichts gemein mit einem Vertrauen zu rationaler Erkenntnis oder untrüglicher Mnemotechnik. Es geht Syberberg viel eher um das Ambivalente, das Ambiguente, um das Vage eines aufblit-zenden Momentes, in dem durch Montage heterogene Materialien zusam-menstoßen. Nicht Erinnerung an oder Erkenntnis von etwas soll befördert werden. Beides hätte possessiven Charakter, wäre Besitz von „Wahrheit“. Syberberg hingegen spricht von einer „musikähnlichen Wahrheit aus Bildern und Tönen“ für „lange Meditationen intensiveren Lebens“. Eine musikähnliche Wahrheit ist kaum fixierbar; sie ist allenfalls ein Gewebe aus Ferne und Nähe – immer flüchtig. Gleichwohl – der erklärte Anti-Modernist Syberberg zielt auf das „Gesamtkunstwerk mit seinem Absolutheitsanspruch der Totalität“; er will einerseits eine ästhetische Relativität irritierender Unruhe durch Montage – andererseits will er die Totalität einer heilenden, einer erlösenden ästhetischen Erfahrung. Das ist nur vordergründig ein künstlerischer Widerspruch. Wesentlich ist es ein politischer

 

Fixpunkt des Syberbergschen Geschichtsverständnisses und seiner Ästhe-tik, ja Fluchtpunkt im Sinne des Punktes, dem er durch seine Kunst zu ent-kommen trachtet, ist die Französische Revolution, der Göttersturz der alten Welt, nach dem eine Entsakralisierung und Profanierung des Lebens einge-treten sei. In der vollends profan gewordenen Moderne entschwanden Mythos und Natur als Mittelpunkte der Kunst; schließlich bleiben auch von der beschleunigten Geschichte nur Fragmente. Wie nur ein Romantiker beklagt Syberberg den Verlust der Mitte der Kunst, und wie die deutschen Frühro-mantiker will er ihr mit einer neuen, einer künstlichen Mythologie eine neue Mitte schaffen, die sie zur Totalität entfalten kann. Syberberg schließt an das Projekt einer ästhetischen Revolution der Moderne aus dem Geiste des Mythos an. Allein, die deutsche Suche nach dem verlorenen Paradies (Ludwig II. und Karl May) langt immer in künstlichen Paradiesen an, in In-dividual-Mythologien an der Grenze zum Wahn. Diesen Prozeß des Um-schlagens von Sinn-Suche in Selbstzerstörung verfolgt Syberberg in LUDWIG und in KARL MAY. In HITLER weitet sich das Seelenpanorama eines Mannes auf ein Volk, auf Europa, schließlich auf den ganzen Globus aus. PARSIFAL konstatiert das Ende aller Sinn-Suche und Erlösungshoffnung, die sich im Rahmen der Geschichte bewegt. Jetzt, nach dem Ende der Geschichte, bleibt allein die Immanenz der Kunst, des Films, der durch „Montagebilder der untergegangenen Welt“ zum „Ersatz für verlorene Realitäten der Vergangenheit“ wird. Kunst ersetzt die Geschichte als verlorenen Bezug des Menschen. Sie wird selbst zum „Lebensmodell“. Indem Syberberg aber seiner Kunst den Anspruch auf Totalität zuschreibt, erbt er – ohne es zu regi-strieren – die Problematik aller geschichtsphilosophischen Totalisierungs-ideen: die Frage, wie der Wille zur Totalität es mit dem widerständigen Be-sonderen hält.

„Eine Phantasie meiner Art“, schreibt Syberberg in seinem Buch zum PARSIFAL-Film, „ist nicht erfinderischer Natur (...) Das Eigene liegt in der Kombinationsfähigkeit von Vorgefundenem zu etwas Drittem, Optisch-Akustischem, vielleicht zu Riechendem, Tastendem, Schmeckendem.“ Bedeutsam ist hier zunächst die Absage an das Prinzip der ästhetischen Mo-derne schlechthin: an die Innovation, an das Schöpferische und originär Neue. Hinzukommt der Akzent des eminent Sensuellen, der Synästhesie, die der Symbolismus zum ästhetischen Prinzip erhob. Alle Sinne sollen zusam-mentreten, gleichsam „ineinander-montiert“ werden. Erst in der so sich er-gebenden Totalität einer Interaktion der Sinne schärft sich die Wahrnehmung des Film-Zuschauers für die assoziativen „correspondances“ (Baudelaire) des kombinierten Materials, der Bruchstücke: „Riesige Bruchsteinlager der alten Kulturen für Zitate, die sich zu neuen Kulturen schichten. Alles, was wir zeigen, hören lassen, ist schon einmal benutzt, berührt worden, und nur die Umordnung der Systeme und Bruchsteine ergibt, wenn es gelingt, das Neue.“

Hier erscheint das Neue als Ziel ästhetischer Produktion wieder ins Recht gesetzt, jetzt als Resultat einer umordnenden Kombinatorik — der Montage. Syberberg spricht von Montage-Effekten als von „Bildvermengungen als Entsprechungen hin und her“. Diese Entsprechungen erfolgen jedoch nicht auf der Ebene der Organisation des filmischen Materials, sondern als Mon-tage im Raum vor der Kamera und als Montage auf der Tonspur. Syberberg ist kein „Schneidetisch-Ingenieur“ (Manfred Schneider) wie Eisenstein, Welles oder Kluge. Er ist allerdings auch kein Dadaist, der es dem Zufall überläßt, wie der Gott der Kombinatorik das Material aus dem Steinbruch der Geschichte fallenläßt. Zwar spricht Syberberg vom Irrationalismus als dem Prinzip seiner Montage, doch steht dessen Dominanz das Prinzip „geprüfter Zufälle“ entgegen. Ein geprüfter Zufall ist als Prinzip des Kombinierens von heterogenem Material alles andere als irrational. Der Ratio, sagen wir besser – der rationalen Erkenntnis des Zuschauers kann sich jedoch die Bedeutung, der Sinn der Entsprechungen entziehen. (Das war schon das Problem der Eisensteinschen Montage-Ästhetik.) – Syberberg setzt darauf, daß der Augenblick der (synästhetischen) Wahrnehmung von „Vermengungen“ im Montage-Bild identisch ist mit dem des Erkennens von Entsprechungen des Montierten.

Auf die Herstellung dieser Identität zielt die „Erkenntnis-Erinnerung“, die assoziativ ausgelöst wird, von ordnender und analysierender Ratio nicht geregelt ist. Ihr Fundament soll das kollektive Unbewußte sein, in dem sich Individualgeschichte und Kulturgeschichte in einem internalisierten „Bildkosmos“ decken. Durch Montage-Effekte soll dieser innere Kosmos im Zuschauer aktiviert werden, gleichsam wie in der „talking cure“ der Psychoanalyse, hier aber weniger durch Sprache, sondern durch Bilder und Töne. Syberberg versteht Montage so als eine das Verges-sene und Verdrängte im Bild-und-Ton-Gedächtnis der Menschheit revozie-rende Arbeit, als Kulturmontage: „die Montage verschiedenster menschlicher Anstrengungen“, Bilder, Welt-Bilder zu entwerfen, die längst verschollen sind. Betont Syberberg hier die überindividuelle Komponente der „Erkenntnis-Erinnerung“, so hebt er an anderer Stelle gerade die subjektive Freiheit hervor. Der Zuschauer soll frei sein, selbst zu kombinieren, da erst in ihm der Hintergrund der montierten Assoziationsketten deutlich wird – als „Erfindungen fürs innere Auge“ versteht er hier seine Filme. In Syberbergs Ästhetik läßt sich ein merkwürdiger Widerspruch namhaft machen: der zwi-schen überindividueller Determination der „Erkenntnis-Erinnerung“ und subjektiver Freiheit, zwischen vorgegebener Totalität und der assoziativen Logik des Besonderen.

Die Syberbergsche Montage-Ästhetik richtet sich in toto gegen den episch-narrativen Film, der sich als Spiegel des Lebens oder als historische Rekonstruktion ausgibt. Montage ist zunächst Montage vor der Kamera. Syberberg baut im Studio Panoramen mit Versatzstücken aus Geschichte, Malerei, Architektur, Filmgeschichte, Alltagsleben auf. In diese Assemblagen stellt er Leinwände, auf die Bildmaterial, Bildzitate aus allen Be-reichen der Geschichte und der Kunst projiziert und überblendet werden. Die zweite Dimension der Montage ist die des gesprochenen Textmaterials. Nicht nur können sich in Syberbergs Filmen Personen aus den unterschiedlichsten Epochen der Geschichte begegnen, auch imaginäre Figuren treten auf. Die Simultanität von Zeiten und die Gleichrangigkeit von „Realität“ und Fiktion wird auch in den Texten manifest in einer Vielzahl collagierter, montierter und kaum entschlüsselbarer Zitate. Sprache wird als „Sprachpartitur“ eingesetzt, als intertextuelles Gewebe mit musikalischer Rhythmik. Die dritte Dimension ist die Montage auf der Tonspur selbst. Hier montiert Syberberg Musik von Mozart, Beethoven, Wagner und Mahler mit Schlagern und Volksmusik, dokumentarische Textzitate, Zitate aus der Weltliteratur, häufig auch collagiert, und Texte aus eigener Feder. – Der Zuschauer hat also drei Ebenen vor sich: das, was er sieht, nämlich die im Raum montierten Kultur-Versatzstücke; das, was die agierenden Schauspie-ler (und Puppen) sagen, zitieren, und schließlich das, was er hört an Musik und weiteren Texten.

Alle Ebenen sind gleichwertig, gleich vielschichtig, von Leitmotiven durchzogen (etwa dem Nibelungen-Mythos), zu Obertönen verdichtet (der Wagnerschen Musik). Sie überlagern sich, können aber auch aufgebrochen, konterkariert werden durch Verschiebungen innerhalb des Bildes und auf der Tonspur. Kennzeichnend für Syberbergs häufig statische Einstellungen, die diese Panoramen erfassen, ist die exzeptionelle Länge (sie können bis zu zehn Minuten dauern) und die rituelle, stilisierte Langsamkeit der Bewegungen vor der Kamera. Diese Weltrevuen mit ihren Assoziations-ketten, die sich aus Raum- und Klang-System aufbauen, mit ihrer Beziehungs- und Verdichtungs-Technik, mit den Perspektivwechseln und den Zitaten selbst in Objekten, mit ihrer Vermischung von Kunst und Kitsch, von Weihe-Festspiel, Zirkus und Tingeltangel – sind sie politische Kunstwerke? Ein Bild, eine Einstellung aus Syberbergs HITLER-Film. Im Off die Stimme des Schauspielers Harry Baer: „Als die gute alte Demokratie des 20. Jahrhunderts in die Jahre kam, schickte sie Boten in alle Richtungen, die den Grund des Elends in der Welt erforschen sollten. Als die Boten zurückkamen, mußten sie erfah-ren aus Ost und West, Nord und Süd, von allen Computern, den Un-bestechlichen, wie man sagt, daß sie selbst, die Demokratie, die gute alte, die Ursache allen Elends war, des 20. Jahrhunderts.“ Dazu sieht man in einer Einstellung folgendes: „Das Kind steht auf und geht in die Welt, im Arm einen Plüschhund mit dem Gesicht Hitlers, am gehängten Hitler vorbei, durch weitere Grot-ten begegnet sie, groß auf sie zugehend, der Projektion Lola Montez‘ aus dem Ludwig-Film. Es durchschreitet drei Engel aus dem Bild der Tageszeiten von Runge, durchwandert den Zirkel Gottes von William Blake [...] geht an den Nornen Wieland Wagners vorbei, geht durch eine Caspar-David-Friedrich-Landschaft mit Dürers schwarzem Stein aus dem Bild Melancholia und sieht ein neugeborenes Kind auf der Wiese aus Runges Morgen. Dazu nach dem Ende der Götterdämmerung weiter Parsifal-Vorspiel.“

Die Frage nach dem politischen Charakter dieser Sequenz bleibt an der Oberfläche, richtet sie sich nur an den manifesten Gehalt. Kombiniert man jedoch einmal frei (Syberberg ermuntert ja dazu), dann wird ein Detail des Textes bedeutsam, vielleicht ist es ein Verschreiben, ein Fehler der Gram-matik, vielleicht auch nur ein Druckfehler – die Verwechslung/Vertauschung von „das Kind“ mit „sie“ im Text des Drehbuches. Sie wirft ein erstes Licht auf den politischen Charakter von Syberbergs Filmästhetik. Das Kind, das hier geht (es ist ein Mädchen), durchzieht den Film als „es“, Symbol der Unschuld, der unbefleckten Phantasie. In dieser Szene des Films jedoch wird – forciert durch den im Off gesprochenen Text über die Demokratie als Ursache allen Elends des 20. Jahrhunderts – aus dem „es“, das die ge-schichtlichen Räume und Kunstwelten durchwandert, unversehens „sie“ – die Demokratie, den Plüschhund Hitler im Arm, den sie kurz darauf wie ei-nen Säugling in die Wiege bettet. Aus dem mythisch-unschuldigen „ES“ wird erst „SIE“, die Demokratie, die alles Heilige entweiht, alle Unschuld korrumpiert, dann wird „ER“, der Führer, Hitler. Den Transformationspro-zeß verstärkt die Musik-Montage, die von Götterdämmerung zum Parsifal--Vorspiel schaltet, von der musikalischen Phantasmagorie des Untergangs zur mystisch-religiösen Erlösungssehnsucht, in der das „Nichts wohnt“ (Adorno). Syberbergs ästhetische Konstruktion des historischen „Ereignisses“ Hitler zieht alle assoziative Kraft aus Kunstwelten, aus dem Imaginären, ausgespannt zwischen den beiden Polen eines katastrophischen, eines eschatologischen Geschichtsbildes: dem Paradies und dem Inferno. Zwischen diesen Polen löst alle Realität sich auf zum Zeichen von Unter-gang und Übergang, zum Zeichen einer mythischen Passage, in deren Ver-lauf alles auf „IHN“, den Führer, hindeutet, hinarbeitet. Das ist keine ästhe-tische „Erkenntnis-Ennnerung“ mythischer Residuale der Moderne, das ist die ästhetische Überführung von stillgestellter, kristallisierter Geschichte in mythisches Schicksal. Syberbergs Montage-Ästhetik will einerseits das Film-Kunstwerk als optisch-akustisches Gefüge frei flottierender Fragmente, das im Zuschauer sich neu zusammensetzt; er will andererseits Film als ein „Lebensmodell“, das das kollektive Unbewußte derart reaktiviert, daß „Erkenntnis-Erinnerung“ das wahrnehmende Subjekt in mythisch gedeuteter Kollektivität aufgehen läßt. Zwischen der Tendenz zur ästhetischen Entfes-selung von Bedeutungsvielfalt und der zur Unterwerfung dieser Vielfalt in einem „Lebensmodell wird der politische Impetus von Syberbergs Ästhetik deutlich.

Die Entfesselung der Bedeutungsvielfalt von heterogenem Material ist die Chance der assoziativen Montage nicht nur zur „Revolution in der Darstellbarkeit“ von Welt, sondern auch dazu, im Rezipienten „neue Systeme des Denkens und Fühlens“ entstehen zu lassen. So wird – produktionsästhetisch – gebundene Bedeutung entfesselt; so wird – rezeptionsästhetisch – die Phantasie des Zuschauers, seine ästhetische Wahrnehmung sensibilisiert, also aus den Konventionen normierten Wahrnehmens befreit. Diese Dimen-sion der Montage-Ästhetik verbindet Syberberg mit der radikalen Moderne und Avantgarde, insbesondere mit dem Surrealismus, mit dem Syberberg auch die Fixierung auf die Traum-Logik und das Unbewußte teilt. Durch Montage-Effekte kann das optisch und akustisch „Unbewußte“ zum Er-scheinen gebracht, sichtbar und hörbar gemacht werden im Assoziationsgefüge. So gesehen, ist auch die Ablösung des linear-kausalen, des chronologi-schen Geschichtsbildes durch posthistorische Simultaneität, durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die Parallelität von Realität und Fiktion eine Chance: die nämlich, Dinge, Figuren, selbst Ereignisse neu zu kombinieren, assoziativ in neue Konstellationen und Konfigurationen zu stellen, nachdem deren historisch eindeutiger Sinn sich verflüchtigte.

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Die Entfesselung historisch gebundenen Sinnes zur Polysemie und Polyvalenz, die Syberbergs Montage-Ästhetik befördern will, ist die Möglich-keit der (post)-avantgardistischen Kunst, das Material der Moderne mit „reizvoller Unverantwortlichkeit zu umspielen“ (Gehlen). So spricht Syber-berg von der „Wiedereinführung und Rehabilitierung der Allegorie“, die Sinn zu Sinn-Partikeln dekonstruiert und so einen schier unendlichen Bedeutungs-Surplus entstehen läßt. Alle Eindeutigkeit zergeht im „Wahnwitz des Augenblicks“ ästhetischer Wahrnehmung, in dem die Bild- und Ton-Montagen im Kopf des Zuschauers zu neuen Gefügen zusammentreten. Sol-che Plötzlichkeit suspendiert die Kontinuität der Zeit- und Raum- Erfahrung. Von „Urblitze(n) der Erfahrung“ ist bei Syberberg die Rede, die nach dem Abräumen historischer Schichten der Erfahrung als plötzliche Einsichten in die Gespaltenheit des Sinnes und der Sinnlichkeit fungieren könnten. Dies – wir bleiben im Konjunktiv – wäre die Chance einer Ästhetik des Posthistoire als allegorische Phantasie, die Syberberg umreißt als „monologische Struktur in der dialektischen Form des maskierten Ich, Aneinanderreihung von Texten statt Charakterfiguren, Musik, Gegenstände von allegorischer Bedeutung, archaisch wirkende Bilder im Sinne seelischer Vorgänge, sich überlagernd, gegeneinander geführt, Fragmentarisches, Skizzenhaftes.“

Die Tendenz einer solchen Ästhetik, die Zeiten zu Bildern und Tönen schichtet, montiert, läßt lineares Denken zugunsten von zyklischem Denken hinter sich. Alles kehrt ihr als Bildpotential wieder, alles ist ihr verfügbar. Wo die postmoderne Ästhetik sich jedoch in allen Spielarten der Retotalisierung des Fragmentarischen und Skizzenhaften verweigert, den Verlust des Sinnzusammenhanges als fait accompli bejaht, da spricht Syberberg seiner Ästhetik des Posthistoire eine Totalitätsabsicht zu, hinter der die Gewißheit steht, „daß wir Gefangene sind übergeordneter Gesetze“, die zu befolgen sind als die Gesetze eines zum „Erhabene(n)“ remythisierten Schicksals, das nie sich wandelt. Syberbergs radikale Anti-Moderne kehrt sich ebenso ge-gen die Postmodeme des „anything-goes“, der auch der Mythos zum Spielmaterial wird.

Die Montage im Posthistoire unterstellt sich übergeschichtli-chen Gesetzen, um eine neue Ganzheit und Einheit zu stiften, deren Vorbil-der sie doch der Geschichte entnimmt: das Gesamtkunstwerk Richard Wagners und dessen Mytho-Politik und – aus der Haltung moralischer Indifferenz heraus – die vom „Mythos“ Hitler bewirkte „Identität von einem Mann und einem Volkswillen und Charakter“. Syberbergs „neue Metaphysik als Mythos per Film“ nimmt die ästhetischen Potentiale der Montage-Technik in den Dienst einer Kunst-Politik, die „Urblitze der Erfahrung“ nur entzün-det, um aufblitzende Erfahrung jeder Subjektivität zu entziehen und einem Unterbewußtsein zuzuschlagen, in dem Individuum und Kollektiv identisch sein sollen. So soll – gleichsam dionysisch – das Individuationsprinzip äs-thetisch gesprengt, die Differenzierungsstrategie der neuzeitlichen Moderne ausgehebelt werden, auf daß ein Identifikationsmuster entsteht, das lebens-praktisch wirksam wird. Syberbergs Ästhetik legt es auf mythisch-kollek-tive, entdifferenzierte Identität an, nicht auf die ästhetisch-blitzhafte Einsicht in jene Vielfalt und in jene Frakturen, aus denen die Moderne und das mo-derne Subjekt bestehen.

Das „Lebensmodell Kunst“, aufgeladen mit My-thoskonzepten und metaphysischen Absolutheitsansprüchen aus dem kultu-rellen Reservoir des Abendlands, soll die Wunden heilen, die Geschichte schlug. Letztlich beharrt Syberberg darauf, daß auch Montage zurückzutre-ten hätte, lassen sich doch nie die Spuren des Subjektiven an und in ihr ganz tilgen: „und statt Montage diese Welterlösung als Selbsterlösungswerk im Spiel der Mittel, die unsere Zeit uns gab – und das ist hier der Film“. Hatte die klassische Montage-Konzeption die Herstellung von Denkbildern im Sinn, die einer vertieften Apperzeption und Erkenntnis von Realität dienen, so ebnet Syberbergs Ästhetik die Differenz von Subjektivem und Objekti-vem überhaupt ein, die Montage dialektisch vermittelt. Film soll im Spiel der Mittel eine neue „paradiesische“ Undifferenziertheit aufscheinen lassen, die noch in ihrer profanen Form als ästhetischer Zustand „Erlösung“ vom Leid moderner Subjektivität wäre.

Syberbergs Ästhetik tendiert zu einer Ästhetik der Überwältigung der Subjekte, denen „Erlösung“ von der Moderne verordnet wird. Daß der heilsgeschichtliche Topos des Paradieses sich einzig der Erfahrung eines unaufhebbaren Bruches von mythisch gedeuteter Vor-zeit und profaner Geschichte verdankt, diese Einsicht verweist Syberberg ins Reich der Fiktionen der Moderne. Jeder historische Bruch mit Mythos und mythisch gedeuteter Kollektivität gilt Syberberg als tragisch, aber als zu schließende Wunde durch Kunst. Sie soll das Ja aus der Tragik der Geschichte sprechen. Der erste Preis, der für dieses Ja zu entrichten ist, ist die Preisgabe des Subjektes, des schlechthin Besonderen und Einzelnen.

In Kunst, wie Syberberg sie will, wird nicht auf das Subjekt gezielt, sondern auf den „Tempel, das Schloß, das Andachtsbild, de(n) heilige(n) Text, die Musik als Klang der Sphärenwelten“, auf die Manifestation einer von Ge-schichte (scheinbar) nicht betroffenen Autorität. So kehrt eine Ästhetik, die zunächst auf Trümmer der Geschichte setzt, zu einer Kunstauffassung zu-rück, in der sich die Einheit eines souveränen Willens zur Schöpfung mit der Macht, ihn durchzusetzen manifestiert. Die absolute Kunst als „Selbsterlösungswerk“ wird absolutistisch. Das ist der historisch-politische Kern von Syberbergs Anti-Moderne, denn diese Kunst bezieht ihre Energie aus einem Willen zur ästhetischen Schöpfung, dem – wie beim Bau von Tempeln und Schlössern – auch Menschen, auch Subjekte nur Material sind, das sich wie Dinge kombinieren, „montieren“, schließlich konsumieren läßt.

Syberbergs Montage-Ästhetik auf der Basis europäischer Kulturassoziatio-nen und der Bild- und Tonvermischungen ist inspiriert von der Avantgarde und deren Angriff auf allen autoritär gesetzten Sinn. Sie wird jedoch selbst autoritär, ja totalitär, durch ihren affirmativen Gestus, durch das unbedingte Ja zur Preisgabe des Subjekts, zu seiner Unterwerfung. Was im Montage-Kunstwerk an Bruchstücken der Kultur und Geschichte zur Einheit eines Lebensmodells zusammentritt, das soll – so will es Syberberg – nur Vor-schein sein, Vorschein des „zum Kunstwerk gewordene(n) Leben(s) des zum Staat geronnenen Volkes“. Dieser posthistorische Ästhetizismus, der sich aller Einsichten in die gefährlichen Konsequenzen eines zum Staat und im Staat „geronnenen“ Lebens entschlagen zu können meint und sich eine „dorische Welt“ (Gottfried Benn) herbeihalluziniert, funktioniert ästhetische Avantgarde in politische Anti-Moderne um und bleibt darin, gerade darin — erschreckend modern.


Literaturverzeichnis:
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