Ein Gespräch mit Dr. Marcus Stiglegger, Dozent im Fach Filmwissenschaft der Uni Mainz, über sein neuestes Projekt: das Kunst- und Kulturmagazin :Ikonen:.

Was ist das grundlegende Konzept der Zeitschrift?

Die grundlegende Überlegung war, ein Magazin zu entwerfen, das in Abgrenzung zu reinen Filmzeitschriften auch für Literatur, philosophische Konzepte, Theater und Musik offen ist. Gleichzeitig wollen wir den Bezug zur Lebenswirklichkeit wahren, beispielsweise durch die Thematisierung von alternativen Lebensentwürfen und Sexualität. Unser Ziel ist es, ein intellektuell offenes Publikum zu erreichen, dass aber nicht notwendigerweise subkulturorientiert ist. Wir wollen die Brücke schlagen zwischen Undergroundkonzepten, die man dann aber mit den Mitteln der Kulturwissenschaft auch einem anderen intellektuellen Publikum vermitteln kann, also die Verbindung von subkulturellen Konzepten und hochkulturellem Wahrnehmungsbereich.

Folgst du denn überhaupt einem wie auch immer gearteten Kulturbegriff, also beispielsweise einer Trennung in Trash, hohe Kultur, Popkultur, Subkulturen?

Seit der Postmoderne sehen wir ja eine enorme Vermischung dieser Bereiche. Ich als Herausgeber bin definitiv offen für populärkulturelle wie für etablierte „seriöse“ Konzepte und würde das auch immer gleichberechtigt behandeln, wenn es mir interessant scheint. Ich habe allerdings den Anspruch, dass das Themen sind, die in anderen Medien noch nicht totgeschrieben wurden. Mir geht es schon darum, die Randbereiche öffentlicher Wahrnehmung, das Ungewöhnliche zu berücksichtigen.

Auf www.ikonenmagazin.de gibt es ja eine eigene Online-Ausgabe des Magazins…

Auf der Homepage kommt all das unter, was aus verschiedenen Gründen nicht mehr ins Magazin passt. Vor allem also Beiträge, die uns wichtig sind, die wir aber aufgrund ihrer Länge nicht drucken können. Hier ist dann auch Platz für stärker wissenschaftlich orientierte Texte. Außerdem bringen wir hier vermehrt Rezensionen, weil man mit einer Internetseite einfach aktueller sein kann. Hierbei soll aber immer ein kritischer Standpunkt gewahrt bleiben, kein affirmativer Fan-Gestus, sondern die Leute hinterfragen, besonders auch in den Interviews.

Was glaubst du, wie Kunst heutzutage noch Einfluss auf Leben und Gesellschaft nehmen kann?

Es gibt einen gewissen Bereich eines bewusst rezipierenden Publikums, dass in Romanen, Filmen und Musik eine Art Ersatzreligion gefunden hat. Das einzige wo man das „Erhabene“, das „Heilige“ noch erleben kann, ist in der Kunstrezeption.
Ansonsten muss man sagen, dass Kunst, gerade wenn man einen erweiterten Kunstbegriff ansetzt, der weit in die Populärkultur reinreicht, sehr stark zur Zerstreuung konsumiert wird. Die meisten Leute nehmen den Unterschied zwischen Unterhaltung und Kunst gar nicht wahr, d.h. sie werden dann offen für ein Kunstwerk, wenn es sie unterhält. Kunst kann zwar immer noch versuchen gesellschaftliche Impulse zu verarbeiten und zu reflektieren, allerdings ist mir mehr als bewusst, das Werke die das versuchen weitestgehend übersehen werden. Oder aber wir haben es mit einer Mythenbildung wie im amerikanischen Kino zu tun. Der Kriegsfilm-Boom z.B. schafft ein mythisches Bild von Geschichte, das sich dann wieder propagandistisch nutzen lässt. Der Einfluss von Filmen ist also bei der Rezeption als Unterhaltung viel größer, weil er dann auf das Unterbewusste und auf die öffentliche Meinungsbildung wirkt.

Das Gespräch führt Steffen Koehn für die Mainzer Universitätszeitung STUZ, im Januar 2003.

Januar 2005 Interview von Werner Niedermeier (Chefredaktion SM-News, ISSN 1613-4567):

Wie bist du dazu gekommen, Ikonenmagazin zu machen?

Ich schreibe seit vielen Jahren regelmäßig für Musik- und Filmmagazine. Da ich mich in diesen eng gefassten Konzepten nicht mehr wirklich ausdrücken konnte und mehr nach größeren kulturellen Zusammenhängen sehnte, kam zusammen mit meinem Layouter Carsten Bergemann die Idee auf, ein eigenes
Magazin herauszubringen, das gerade auf die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Künsten und Medien eingeht, das soziologische, psychologische und philosophische Aspekte berücksichtigen kann etc. Zudem wollten wir eine bestimmte Vorstellung von Ästhetik damit verbinden, und ich denke, dass wir mit den bislang erschienen 5 Heften diesen Vorstellungen relativ nahe gekommen sind. - Es ist im Übrigen keine leichte Aufgabe, ein solches Heft herauszubringen, obwohl es nur zweimal jährlich erscheint. Da Druckqualität und Aufmachen unseren Vorstellungen enstprechen müssen, ist es relativ teuer, und der von mir selbst bewerkstelligte Vertrieb über das Internet ist mühsam und aufwändig.

Was ist für dich Kultur?

Kultur ist für mich jener Bereich menschlicher Schaffens- und Ausdruckskraft, der sich über die alltäglichen Probleme erhebt. Das lateinische "cultura" bedeutet ja "Pflege" im weiteren Sinne, also auch die Pflege der geistigen Errungenschaften. In diesem Sinne betrachte ich :Ikonen: als eine kulturelle Aufgabe, nämlich jene Bereiche der Kommunikation und Kreativität zu 'pflegen', die im Mainstream untergehen würden bzw. übersehen werden. - Mit dem Begriff des Kulturmagazins bezüglich :Ikonen: wollen wir ausdrücken, dass wir uns nicht auf einen bestimmten Bereich beschränken wollen. Für uns ist alles interessant, was eine Eigenständigkeit des Ausdrucks erreicht, was Grenzen überschreitet und uns im positivsten Sinne herausfordert.

SM ist ein Thema, was sich durch einige deiner Artikel zieht. Was
ist SM für dich?

Sadomasochismus ist zwar nicht in jeder Ausgabe explizit präsent, durchzieht die Texte und Themen jedoch wie ein roter Faden, das lässt sich kaum abstreiten. Es geht dabei allerdings weniger um explizite Sexualität als vielmehr um eine sexualphilosophische Persepktive, wie sie sich aus den Schriften de Sades ("Die Philosophie im Boudoir"), Georges Batailles ("Die Geschichte des Auges", "Die Erotik") und Pauline Réages ("Die Geschichte der O") ableitet. Die Idee der Transgression, des 'Grenzkontaktes', kann auf vielen Ebenen eine Rolle spielen, trägt aber nicht selten eine sexuelle Färbung. Insofern ist Sadomasochismus für mich nicht einfach ein privater Bereich sexueller Betätigung und zwischenmenschlichen Austauschs, sondern vor allem auch ein philosophischer Ansatz, ein Modell, die Welt zu begreifen und sich deren Problemen zu stellen. Erotik und Therapie zugleich.

Neben dem Ikonenmagazin machst du ja auch Filme wie z.B.
Schwester Mein. Sagst du uns ein paar Worte zur Entstehung dieses Filmes?

Beruflich beschäftige ich mich seit Jahren theoretisch mit der Filmkultur, es erschien mir daher als logischer Schritt, an frühere Versuche anzuknüpfen und mich noch einmal künstlerisch mit diesem Medium auseinanderzusetzen. In meiner Lebensgefährtin Melanie Dietz fand ich eine großartige Partnerin was die Herstellung dieses Films betraf. Sie hat den Film mit ihrer Montage erst zu dem gemacht, was er jetzt ist. Und nicht zu vergessen kamen hervorragende Impulse aus musikalischer Richtung, von unseren Soundtrackkomponisten Lutz Rach (Tho-So-Aa) und Wilhelm Herich. Wichtige Unterstützung bei der Gestaltung der Fetisch/SM-Club-Szenen bekamen wir von der Performance-Gruppe Die kleine Gruftschlampe, die in der Szene ein Begriff sein dürfte, sowie von dem Franfurter Korsettdesigner Karl Schumacher, der mit seinem Laden "Fetische" (Frankfurt am Main) seinerseits eine 'Institution' der SM-Szene des Rhein-Main-Gebietes ist und im Film kurz in einem Rückblick zu sehen ist.
S.M. ist ein kurzer allegorischer Psychothriller, der letztlich auf die Unfähigkeit der gegenwärtigen Gesellschaft verweist, mit ihren eigenen Schattenseiten umzugehen. Daraus entwickelt sich eine tiefgreifende Persönlichkeitsspaltung, eine heuchlerische Fassade, die dazu tendiert, alles Abweichende zu verleugnen oder sogar zu attackieren. Die Schwester des Protagonisten ist das Opfer dieser Selbstverleugnung. Der Protagonist opfert die junge Frau letztlich stellvertretend für das eigene Verdrängte. Die sadomasochistische Subkultur steht in diesem Film für einen Weg, diese tiefgreifende menschliche Ambivalenz ritualisiert auszuleben. Licht und Dunkel der menschlichen Seelen kommen im sexuellen Akt zusammen. Diese alternative Welt muss dem gespaltenen Protagonisten verschlossen bleiben, konfrontiert ihn aber mit dem eigenen Abgrund, mit dem Resultat der Einsicht in die eigene Schuld. Von da an gibt es kein Zurück...

Was willst du uns sonst noch sagen?

Es ist sehr erfüllend, dass wir aufgrund des sehr positiven Zuspruchs unserer LeserInnen nun bereits an der sechsten Ausgabe von :Ikonen: arbeiten können. Es berührt mich vor allem, dass wir so aufgeschlossene Reaktionen aus der sadomasochistischen Subkultur bekommen, obwohl dieses Magazin ja nicht gerade ein "SM-Magazin" ist. Sehr verpflichtet sind wir hier vor allem der Unterstützung durch das Hamburger Team der "Schlagzeilen", namentlich Matthias Grimme, dessen langjähriges Engagement für die Szene ich sehr eindrucksvoll finde. Auf diese Weise kann man sich vor allem in den 'kulturellen Randbereichen' gegenseitig unterstützen und (hoffentlich) auch weiterhin inspirieren...

E-Mail: mailto:werner@sm-news.de. Web: http://www.sm-news.de (SM-News - das neue Printmagazin für BDSM-Interessierte. Mehr Infos und Bestellung unter www.sm-news.de.)

Weiteres Interview aus dem Gothic-Magazin Black, 2004, geführt von G.Musch:

Marcus, unlängst ist die vierte Ausgabe des Magazins :IKONEN: erschienen. Wenn Du die Erwartungen, die anfangs bei Dir und Deinen Kollegen mit Sicherheit vorhanden waren, in Erinnerung rufst, welche Zwischenbilanz ziehst Du als Herausgeber heute?

Als Carsten Bergemann und ich mit :IKONEN: anfingen – im Oktober 2002 – schwebten uns solche inhaltlich wie formal edlen Magazine wie DU, Lettre oder Merkur vor. Das ließ sich natürlich nicht aus dem Nichts schöpfen, und so entwarfen wir die erste Ausgabe, die unglücklicherweise als Heft 0 läuft, einfach als eine persönliche Reflexion unserer eigenen Ideen und Interessen. Ein Kulturmagazin sollte es sein, nicht mehr ganz wissenschaftlich, aber anspruchsvoll, stilvoll – aber nicht aufdringlich. Da uns aus begrenzten Geldmitteln nur Schwarzweißdruck zur Verfügung stand, machten wir daraus eben diesen kontrastreichen Chiaroscuro-Stil, der vermutlich zum Markenzeichen des Heftes geworden ist. Die Homepage www. ikonenmagazin.de, die parallel gestartet wurde, entwarf dann Robert Karliczek von der Industrial-Breakbeatgruppe Beinhaus. Die sollte dann etwas ‚lichter’ gestaltet sein. Wir haben über die vier Ausgaben immer wieder kleine Korrekturen und Variationen vorgenommen und sind mit Heft 4 bei einem zufriedenstellenden Ergebnis angelangt. Nur mit dem Lektorat hapert es noch etwas, das wird sich demnächst allerdings auch ändern. – Ich denke, alle redaktionell Beteiligten sind recht zufrieden mit der bisherigen Entwicklung, finanziell sieht es allerdings noch immer problematisch aus. Aber das ist bei einem Printmagazin vermutlich nicht ungewöhnlich...

War es eine bewusste Entscheidung, mit der Konzeption des Magazins einem Trend in der westeuropäischen Kultur entgegenzuwirken, der zumindest auf der populären Ebene von einer gewissen Verödung der Inhalte und dem (wenig?) aufgeschlossenen Umgang mit kulturellen Ausdrucksformen gezeichnet ist?

Also, :IKONEN: mit einer solch umfassenden kulturpolitischen Aufgabe zu betrauen, wäre vielleicht etwas übertrieben. Natürlich fällt auf, dass die in :IKONEN: thematisierten Künstler und Werke nicht gerade auf breitenwirksamen Erfolg bauen können. Die Idee ist hier vielleicht, Subkultur und „Hochkultur“ (was ja eine bürgerliche Vorstellung ist) zusammen zu führen. Dabei werden immer wieder sehr anspruchsvolle Texte, wie Kiefers Ausführungen zu Walter Benjamin, neben informationsorientierten Beiträgen (z.B. das Diamanda-Galás-Porträt) und amüsanten Interviews (z.B. mit Jörg Buttgereit) stehen. Manches wird eine Herausforderung sein, anderes ein Vergnügen... Aber letztlich haben wir bislang sehr positiven Zuspruch für dieses Konzept.

Habt ihr aufgrund von Reaktionen und Gesprächen einen Eindruck erhalten können, ob eure konzeptionelle Rechnung aufgeht, sprich, dass die Leserschaft eben jener Menschenschlag ist, der sich von der thematischen Auslegung angesprochen fühlen müsste?

Wir hatten keine klare Vorstellung, wer sich von unserem Magazin angesprochen fühlen könnte. Insofern kann man auch nicht von Erwartungen sprechen, die wir dahingehend hatten. Es war bei der ersten Ausgabe ziemlich aufregend, denn: Was, wenn niemand sich dafür interessiert? Immerhin zeigte sich schon ein Mitarbeiter unserer Druckerei spontan sehr fasziniert, was uns etwas beruhigte... Aber im Ernst: Wir wünschen uns ein Publikum, das so vielschichtig ist wie hoffentlich die Themen von :IKONEN:. Individualisten eben. Von einem „Menschenschlag“ kann man dabei nicht sprechen, denn es geht ja auch nicht darum, ein Magazin nur für eine intellektuelle bzw. subkulturelle Minderheit zu machen. Das gibt es ohnehin bereits. Die Idee ist wirklich, ausgefallene Themen in möglichst fundierter und verständlicher Sprache zugänglich zu machen. Wollten wir ein Genrepublikum ansprechen, wüsste ich nicht, welches Genre :IKONEN: letztlich bedient.

Inwiefern siehst Du Chancen dafür, dass man mit einem die Kunstgenres übergreifenden Magazin nicht nur eine vorhandene Klientel anspricht, sondern auch neue Leser gewinnen könnte? Läge das überhaupt in Eurer Absicht, d.h. gibt es bei Euch einen latent vorhandenen missionarischen Hintergedanken?

„Missionarisch“ würde ich das nicht nennen, aber natürlich freut es uns, wenn wir Mails von LeserInnen bekommen, die uns dafür danken, auf bestimmte Filme, Bücher oder Tonträger aufmerksam geworden zu sein. „Missionieren“ bedeutet ja letztlich, das Publikum zu einer bestimmten Meinung oder Position zu überzeugen – darum geht es uns überhaupt nicht. Vielmehr bieten wir Möglichkeiten und Perspektiven... Wie unsere Leser damit umgehen, ist ihrer eigenen Einschätzung vorbehalten. Und da wir ohnehin noch eine Menge mehr Leser brauchen, wäre es durchaus wünschenswert, dabei nicht in Kategorien denken zu müssen.

Die Darstellung alternativer Lebenskonzepte, wie Du selbst Eure Arbeit mal beschrieben hast, führt vielfach an die Randbereiche menschlichen Seins, soll heißen, dass immer wieder auch Themen wie Gewalt, Tod oder extreme sexuelle Ausdrucksformen, um nur ein paar Beispiele zu nennen, in ihrer Verabreitung in Kunst, Film und Musik aufgezeigt werden. Gibt es für Euch einen Maßstab, anhand dessen ihr bewertet, was noch darstellenswert oder vertretbar ist? Und womit würde sich ein Künstler für eine Widmung in Eurem Magazin disqualifizieren?

Wenn man nach dem Schwierigen und Außergewöhnlichen sucht, kommt man um die Schattenzonen des Daseins kaum herum. Dahinter steht jedoch keine Programmatik. Vielmehr bekommen wir Beiträge angeboten, die dann möglichst ergänzend im Heft kombiniert werden. Dass es dabei zu bestimmten Schwerpunkten kommt, liegt vermutlich an den subjektiven Vorlieben der Redaktion. Und natürlich werden alle Beiträge in der Redaktion gelesen und diskutiert. Immerhin tragen wir die Verantwortung, dass ein bestimmtes Niveau gewahrt bleibt, speziell im Umgang mit problematischen Themen. Grundsätzlich schließen wir kein Thema von vorneherein aus, doch kommt es natürlich auf die Herangehensweise an. Uns wurden bereits Themen angeboten, die wir ablehnten, doch solche Entscheidung bleiben ebenfalls subjektiv. Natürlich richten wir uns bei der Veröffentlichung auch nach geltenden Gesetzen, etwa in der Darstellung von Sexualität. Insofern ist das immer auch eine pragmatische Entscheidung am Ende. Was das Bildmaterial betrifft, hat unser Layouter Carsten Bergemann die letzte Entscheidung, die er mit sicherem ästhetischem Gespür fällt. Ohne seinen speziellen Stil wäre das Heft so nicht denkbar...

Kannst Du einen kurzen Ausblick auf die weitere Entwicklung (inhaltlich und konzeptionell) des Heftes geben? Sind vielleicht auch andere Projekte aus dem Umfeld der Redaktion zu erwarten?

Recht früh kam schon die Idee auf, :IKONEN: als gebundenes Jahrbuch herauszubringen – etwa wie die Poptheoriereihe Testcard, an der ich ja auch mitarbeite. Doch dann ist der Vertrieb noch schwieriger (und teurer). In einer Heftreihe ist man etwas variabler. Und natürlich kann man auf einer DIN-A-4-Seite von Layout her einiges machen, zumal wir ja gutes Fotodruckpapier benutzen. Da wir alle hauptberuflich anderen Projekten nachgehen, ist :IKONEN: glücklicherweise recht konzentriert. Begleitend zum Heft wurde letztes Jahr :IKONEN: media gegründet, ein Label, das in unregelmäßiger Reihe DVDs und CD herausbringen wird. Aber damit experimentieren wir momentan erst...

Du dozierst am Seminar für Filmwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und bist auch selbst im Medium Film aktiv. So steht in wenigen Wochen die Veröffentlichung der DVD zum Film "Schwester mein" an, bei dem Du das Drehbuch geschrieben sowie Regie und Kamera geführt hast. Kannst Du unseren Lesern einen kleinen Vorgeschmack auf diesen Kurzfilm geben und vielleicht auch ein wenig über sein Entstehen verraten? Vielleicht auch über die Zufälligkeit der Initialen des Filmtitels in Bezug auf den Inhalt?

In zeitlich stark verschachtelten Szenen erleben wir in SCHWESTER MEIN die Suche eines etwas desorientierten jungen Mannes nach dem Mörder seiner Schwester. Diese Suche führt ihn in jene fremde Welt, der seine Schwester angehörte: SCHWESTER MEIN steht auch für S.M. Das befremdende Geschehen in einem geheimen SM-Club bringt ihn der Wahrheit näher. Einer Wahrheit, vor der er lieber die Augen für immer verschließen würde... SCHWESTER MEIN führt den Zuschauer in die düstere Welt eines postmodernen Film noir, durchzogen von psychosexuellen Symbolen, grollendem Industrial-Soundtrack und verstörenden Visionen. Für mich ist es ein allegorischer Psychothriller, der letztlich auf die Unfähigkeit der gegenwärtigen Gesellschaft verweist, mit ihren eigenen Schattenseiten umzugehen. Daraus entwickelt sich eine tiefgreifende Persönlichkeitsspaltung, eine heuchlerische Fassade, die dazu tendiert, alles Abweichende zu verleugnen oder sogar zu attackieren. Die Schwester des Protagonisten ist das Opfer dieser Selbstverleugnung. – Die sadomasochistische Subkultur steht in diesem Film für einen Weg, diese tiefgreifende menschliche Ambivalenz ritualisiert auszuleben. Licht und Dunkel der menschlichen Seelen kommen im sexuellen Akt zusammen. Diese alternative Welt muss dem gespaltenen Protagonisten verschlossen bleiben, konfrontiert ihn aber mit dem eigenen Abgrund. Von da an gibt es kein Zurück... – Wenn man selbst Regie bei einem Film führt, wird schmerzhaft deutlich, wie illusorisch die Idee ist, einen Film als das individuelle Kunstwerk eines bestimmten Filmemachers zu betrachten. Insofern würde ich gerade S.M. als ein Gemeinschaftswerk bezeichnen, denn ohne Melanie Dietz, die für u.a. die Montage zuständig war, hätte ich den Film gar nicht machen können. Zudem ist die massive sinnliche Wirkung des Films ohne die hervorragende Musik nicht denkbar. Ich habe ja hier zum wiederholten Male mit Lutz Rach von der Darkambient-Band Tho-So-Aa zusammengearbeitet, und ich denke, dessen Fans werden in dem Film voll auf ihre Kosten kommen. Und zudem gibt es ja auch noch eine kleine exklusive Überraschung aus dem Power-Electronics-Bereich... S.M. ist ein absoluter Low-Budget-Kurzfilm – obwohl er hoffentlich nicht so aussieht – und ohne die kostenlose Beteiligung aller Schauspieler, Komparsen und Techniker ist so etwas völlig unmöglich. Hier ist vor allem die Offenheit und Bereitschaft der Frankfurter Performance-Gruppe „Die kleine Gruftschlampe“ zu erwähnen, die auch in den Outtakes der DVD ausgiebig zu bewundern ist.

Auf der DVD werden auch noch andere Kurzfilme unter Deiner Regie nämlich "Male", "Opfer", "Traumspiel" und "New York 1989" zu finden sein, die über einen Zeitraum von gut 15 Jahren entstanden sind. Sind diese Filme bereits einmal der Öffentlichkeit zugänglich gewesen oder handelt sich dabei um "Archivmaterial"?

Die erwähnten Bonusfilme stammen aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen. MALE wurde auf 16mm für viel Geld produziert. Olaf Wehowsky, Cathy Dörr (heute: Huyer) und ich hatten damals die Hoffnung, mit diesem Film auf Festivals zu punkten, und tatsächlich lief er auf einigen deutschen Kurzfilmfesten – allerdings ohne nennenswerten Erfolg. Rückblickend bin ich auf einige Momente des Films sehr stolz, und ich denke, auf DVD kann er noch mal neu gesehen werden. OPFER war eine studentische Übung, die ich als Hommage an die Regisseure Dario Argento und Mario Bava geschrieben hatte. Dass wir tatsächlich einige entsprechende Momente auf Video bannen konnten, war vor allem dem Kameramann Stefan Janicke zu verdanken, der einen Stabilizer mitgebracht hatte, mit dem ruhige, gleitende Breitwandbilder möglich wurden. TRAUMSPIEL war mein Bewerbungsfilm für die Münchner Filmhochschule und entstand unter Mithilfe einiger Leute aus der Frankfurter Gothic-Szene. Der Film war stark von meinem Interesse für Schamanismus und die Videoclips der Band Fields of the Nephilim geprägt. NEW YORK 1989 ist eigentlich ein Homemovie, das auf einem Schüleraustausch in New York entstand. Melanie Dietz und ich haben das extrem raue Super-8-Material neu aufgearbeitet und mit Musik von Tho-So-Aa unterlegt. Der Film wirkt sehr eigenartig und beklemmend, aber na ja, das muss jeder selbst entscheiden... Also ist nur letzterer Film bislang noch nicht öffentlich gezeigt worden.

Hegst Du eventuell auch Pläne für einen Film in "Spielfilmlänge", was natürlich auch ein gewisses Kontingent an Zeit und Geld benötigt, oder hast Du generell eher eine Vorliebe für Kurzfilme?

Natürlich würde ich gerne einem richtigen Spielfilm drehen, aber das ist in Deutschland von so vielen Faktoren abhängig. Und wenn man dann noch spezielle Interessen hat... Immerhin: Jörg Buttgereit hat auch seit über zehn Jahren keinen Film mehr drehen können. Und der ist bereits etabliert und bekannt. Was soll man da als kleiner Kurzfilmer wollen? Persönlich habe ich mehr Interesse an Langfilmen, wobei gerade für extreme und experimentelle Sujets die Miniaturform natürlich gut geeignet ist. Sowohl MALE als auch S.M. basieren ursprünglich auf Ideen für Langfilme...

Im Zusammenhang mit Deiner Arbeit zeigt sich immer wieder ein starkes Interesse am Film Noir, Filmen mit Bezügen zu Fetisch und SM, sowie Horror- und Splatterfilmen. Eben bei letzterem Thema habe ich vor wenigen Wochen eine Informationsmail zu einer Petition gegen Filmverbote erhalten. Möchtest Du dich hierzu äußern bzw. kannst Du die Hintergründe soweit Dir bekannt kurz darstellen diese Petition unterstützend?

Es geht dabei um die Forderung, den (zweifellos trashigen) Splatterfilmklassiker BLOOD FEAST von Herschell Gordon Lewis wieder von seinem Verbot zu entbinden. Das Film ist wegen Gewaltverherrlichung kürzlich bundesweit auf DVD beschlagnahmt worden. Wer den Film kennt, kann darüber nur lachen, denn die billigen Sechzigerjahre-Effekte in diesem Film lassen eher auf eine komödiantische Tendenz schließen. Stefan Höltgen, Herausgeber der Zeitschrift f-lm, hat mit seiner Medialog AG die Petition ausgearbeitet, Prof. Wulff aus Kiel wird wohl das wissenschaftliche Gutachten schreiben, und der erste Unterzeichner war Regisseur Lewis selbst. Da ich Höltgens Meinung teile, dass der Film zwar nicht besonders gut, aber wichtig für die Geschichte des Horrorfilms ist, unterstütze ich persönlich diese Petition. Überhaupt denke ich, dass jeder Film für ein erwachsenes Publikum zugänglich sein sollte, in dessen Herstellungsprozess nicht nachweislich gegen geltendes Recht verstoßen wurde. Bei BLOOD FEAST wird wohl niemand ernstlich annehmen, dass es sich um einen „Snuff-Film“ handeln könnte...

Wie groß würdest Du denn aus Deiner Sicht den möglichen desensibilisierenden Einfluss von Gewaltfilmen besonders auf Kinder und Jugendliche einschätzen? Ist der in der Öffentlichkeit oft hergestellte Zusammenhang zwischen filmerischer Gewalt oder auch die in PC-Spielen und einer scheinbar immer weiter herabgesetzten Hemmschwelle zur Gewalt wirklich nachvollziehbar?

Die konservative Politik zitiert die Gewaltwirkungsforschung gerne herbei, wenn es darum geht, populistische Begründungen für soziales Fehlverhalten zu bieten. Dabei wird kategorisch übersehen, dass bislang noch nicht nachgewiesen werden konnte, ob mediale Gewaltdarstellungen überhaupt einen direkten Einfluss auf das Verhalten der Rezipienten ausübt. Ich selbst denke, dass Filme wie auch andere Kunstwerke gesellschaftliche Strömungen ihrer Zeit reflektieren und verarbeiten. Filme befriedigen also zunächst eine gesellschaftlich bedingte Nachfrage – auch nach Gewaltdarstellungen. Doch während der Filmzuschauer allenfalls mental aktiv ist, während der Film läuft, ist das PC-Spielen auch ein physisch aktiver Konsum. Es ist bekannt, dass zahlreiche Aktionsspiele auf Trainingsprogramme internationaler Militäreinrichtungen zurückgehen, mit denen Soldaten die Tötungshemmung genommen werden soll. Es leuchtet mir ein, dass es ein unterschiedlicher Prozess ist, einen filmisch vorgeführten Gewaltakt zu verarbeiten oder diese Gewalt selbst per Knopfdruck herbeizuführen. Aber auch diesen Effekt würde ich nicht überschätzen, sonst muss man irgendwann beim kindlichen Rollenspiel ansetzen... – Um es kurz zu machen: Film sollte die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks genießen, und der Zuschauer ist hoffentlich mündig genug, zu wählen, womit er zurecht kommt. Ein Jugendverbot für Kunstwerke mit massiver Gewaltdarstellung halte ich jedoch für gerechtfertigt. Aber mit einer solchen Einschränkung kann man leben, denke ich.

Gibt es aus dem aktuellen Filmgeschehen Werke, die Du unseren Lesern vielleicht ans Herz legen würdest?

Dieses Jahr habe ich einige sehr eindrucksvolle Filme gesehen, die früher oder später auch in Deutschland zu sehen sein werden. TWENTYNINE PALMS von Bruno Dumont z.B. ist ein existenzialistisches Drama über ein Pärchen mit Sprachbarriere, das sich in der kalifornischen Wüste dem absoluten Nichts gegenüber sieht. Ein anstrengendes, hartes Werk in langen Breitwandeinstellungen (DVD aus Frankreich erhältlich). – Aus Ungarn kommt DEALER von Bendek Fliegauf, der bereits auf der Berlinale lief. Dieser apokalyptische Film ist fast durchweg mit einem Lustmord-artigen Bassdröhnen unterlegt und erinnert stellenweise an David Lynch. Laut Regisseur ein Film für Leute, die wissen, dass Depressionen kein vergehendes Phänomen der Pubertät sind... – A SNAKE OF JUNE von Shin’ya Tsukamoto zeigt in stilisiertem Schwarzweiß, wie ein entfremdetes Ehepaar durch bizarre sexuelle Riten wieder zueinander findet (DVD aus England erhältlich). – Auf DVD ist gerade erschienen: MENSCHENFEIND von Gaspar Noe, und natürlich weiterhin sein aktuellerer Film IRREVERSIBEL. Beide Filme können als radikale Herausforderungen des Publikums mittels filmischer Ausdrucksmittel gelten. – Komödien fallen mir gerade keine ein...

Als letztes möchte ich Dir noch Gelegenheit geben, auf weitere Neuigkeiten oder Veröffentlichungen von Interesse hinzuweisen.

Im Herbst wird gemäß der Ankündigung die CD-Compilation „...in the Crystal Cage“ erscheinen. Das Konzeptwerk versammelt unterschiedlicher Musikprojekte, die sich intermedial mit dem Thema Isolation auseinandersetzen: Inade, Herbst9, Apoptose, Galerie Schallschutz, Tho-So-Aa, Naevus, Pilori, Drape Excrement, Shining Vril, Troum u.a. Die Stücke liegen bereits vor, und ich bin sehr zufrieden damit: Es wird eine originelle Reise von Darkambient über Ritual und Industrial bis hin zu Neofolk. Ebenso schwer berechenbar wie das :Ikonen:-Magazin selbst... – Zusammen mit meinem Kollegen Bernd Kiefer gebe ich das Buch „Pop & Kino. Von Elvis bis Eminem“ heraus (Verlag Bender/Ventil), das u.a. auch auf den Einfluss von Gothic-Kultur auf den Film eingeht (THE CROW etc.). Danach folgt zusammen mit dem :IKONEN:-Redakteur Alexander Jackob ein kleiner Band zur neuesten Cinematografie des Holocaust (Schüren Verlag).
Ich selbst denke momentan zudem angestrengt über Urlaub nach...