Atrabilis Sunrise

Perverse liturgy (Pouring infection deep into the soft arms of the-noeosphere)

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Label: Raubbau
Format: CD
Veröffentlichung: 8. Februar 2013

Hinter Atrabilis Sunrise verbirgt sich Padre P.C., der mit diesem Solo-Projekt zwischen Noise, Industrial und Experimental alterniert und damit Rhythmik gegen Textur, Struktur gegen Formlosigkeit sowie Krach gegen Ambient ausspielt. Das Album „Perverse Liturgy“ reiht sich dabei in eine seit 2001 kontinuierlich wachsende Diskographie ein.

Als Artwork wurden kunstvoll bearbeitete Abbildungen aus historischen Lehrbüchern für Anatomie ausgewählt, die teils als Collage arrangiert wurden. Sie zeigen Schädel, Muskulatur, Knochen, Adern und Gewebe als Texturen des geöffneten Körpers, der durch den anatomischen Blick zur vollständigen Sichtbarkeit verdammt wurde. In seiner Studie „Die Geburt der Klinik“ (1963) hat Michel Foucault, das „Durchforschen des Körpers“ als einen Prozess bezeichnet, der ein „unsichtbares Sichtbares“ (Foucault, 108) aufdeckt, und damit die „Nacht des Lebens“ durch die „Helligkeit des Todes“ (ebd., 179) ersetzt. Atrabilis Sunrise bewegt sich genau in dieser anatomischen Tradition und durchdringt mit seinen Kompositionen die Grenzen des Musikalischen um ihr akustisches Gewebe offen zu legen. Drückende Industrial-Sounds, Hämmernde Rhythmen, sägende, fiepende und beißende Noise-Arrangements und aggressive Vokal-Elemente machen auch hier den Tag zur Nacht und geben den Blick in das Innere des Künstler frei. „Perverse Liturgy“ ist weniger eine umgekehrte oder abnorme Messe, wie der Titel ankündigt, als vielmehr eine öffentliche Selbst-Obduktion von Padre P.C., dessen musikalische Visionen hier enthüllt und seziert werden.

Mit dem Stück „hombre sin nombre“ beginnt das Album rituell: Nach einem meditativen Spoken-Word durchdringen wuchtige Drones und minimalistische Rhythmusakzente die Stille und stimmen damit auf den weiteren Verlauf des Werkes ein. Mit dem monotonen „done with the outer world“ dringt das Album weiter in eine Form des 'Inneren’ vor, was im Titel des Tracks ja auch explizit reflektiert wird. Die kommenden Tracks nehmen dann spürbar an Intensität zu, steigern sich in ihrer rhythmischen wie klanglichen Intensität und ersetzten die Ambient-Atmosphäre durch eine wesentlich offensivere Industrial-Ästhetik. Dieser Wandel artikuliert sich auch über den Einsatz der Stimme, die zu Beginn des Albums als bedrohliches Flüstern hinter die instrumentalen Arrangements gemischt wurde, nun aber in Gestalt von Schreien und Rufen ihren Weg ins Zentrum gefunden hat. Der Titel-Track „perverse liturgy“ verdichtet die Stimmung des Albums – hier werden repetitive Noise-Loops mit mechanischen Drums und TV-Samples zu einem komplexen Amalgam verschmolzen. „Perverse Liturgy“ ist ein interessantes und gekonnt arrangiertes Album, druckvoll produziert und auch in der visuellen Gestaltung passend umgesetzt. Auch wenn die Rede von einer musikalischen 'Reise’ bzw. dem so genannten 'Kopfkino’ etwas Inflationäres hat, fällt es schwer Atrabilis Sunrise’s Album nicht als Erkundung des eigenen Innenlebens zu deuten, die auch für den Hörer zum Trip werden kann.

Literatur: Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt/M 1988.

Patrick Kilian