Cinema 51: Erotik

Klappbroschur, 208 S., ISBN: 3-89472-602-4, Preis: 24,00 €

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Nachdem bereits inm letzten Jahr das Schweizer Filmjahrbuch Cinema mit einem Band über Essayfilme überzeugen konnte, ist auch das vorliegende neue Buch sehr gelungen: "Erotik" beleuchtet anhand sehr unterschiedlicher - teil poetischer, teils analytischer - Beiträge ein in der deutschsprachigen Filmliteratur weitgehend vernachlässigtes Thema. Dabei wird nicht ein grundsätzlicher Überblick gesucht, sondern der besondere, auch exzentrische, Blick gepflegt.

Bereits im ersten Text von Julia Marx geht es um ein bizarres Phänomen: Die Weiterentwicklung bekannter Filmcharaktere im Rahmen erotischer Szenarien durch ihre Fans - "Fanfic(k)s". Etwas filmwissenschaftlich konventioneller, wenn auch absolut treffend, geht Ilma Rakusa in ihrem Aufsatz über Adrian Lynes unterschätzten Film LOLITA vor: Sie untersucht die Bedeutung des Blicks für erotische Inszenierungen.

Der möglicherweise wichtigste Beitrag des Bandes ist ein Interview mit dem Filmemacher Lionel Baier über die fließenden Grenzen zwischen Kunst und Pornografie - sowohl in seinem eigenen Schwulendrama GARCON STUPIDE, als auch im französischen Kunstfilm (Cathérine Breillat). Jen Haas untersucht dann das Kinodispositiv als erotische Situation an sich - auch ein Ansatz, der hin und wieder auftauchte, aber nie wirklich zu Ende gedacht wurde.

Bea Laupers Bildessay "Erotik" zeigt dann, wie man vor allem in Details - und nicht nur des nackten Körpers - sinnliche und erotische Entdeckungen machen kann.

Ein zweiter wesentlicher Beitrag des Bandes ist Daniel Stapfers filmhistorische Aufarbeitung des Schweizer Sexfilms der sechziger und vor allem siebziger Jahre. Wir lernen, dass dieser mit Erwin C. Dietrich zwar einen noch heute aktiven Vorreiter hatte, aber auch sonst sehr verbreitet war. Ein aufregender Ansatz zur Erforschung des exploitativen Genrekinos - auch hier könnte man mit Folgearbeiten ansetzen.

Des weiteren fällt ein Text auf, der den Kontext von Erotik und Gewalt untersucht (Annette Althaus' "Die Hard"), was von daher produktiv ist, dass im amerikanischen Mainstream sich Mechanismen herausgebildet haben, die vor allem Sinnlichkeit und Sexualität durch Gewaltszenen kompensieren, um das Kino "familientauglicher" (sic!) zu gestalten.

Empfehlenswert ist auch Birgi Schmids Artikel "Die Sprache des Begehrens", der den Zusammenhang zwischen Arnauds Film DER LIEBHABER und Marguerite Duras' beiden Quellentexten analysiert - wobei ihr Buch "Der Liebhaber aus Nordchina" ja eine Art nachträglicher Kommentar zum Film ist.

Das ganze Buch über finden sich auch kleine Momentaufnahmen aus erotischen Filmen, die den Blick auf jenes fragile Konstrukt lenken, das den Zuschauer affizieren könnte, Szenen aus EYES WIDE SHUT, BOUND, VIRIDIANA, PSYCHO usw. Erotik im Film ist eine Frage der Umstände, des Kontextes, des Moments - kurz eine Frage der Virtuosität von Inszenierung. Das wird hier nochmal deutlich.

Neben weiteren Artikeln zum Schweizer Kino finden wir hier u.a. eine Kritik zu Daniel Schweizers neuem Film WHITE TERROR (2005), der nach SKIN OR DIE (1998) und SKINHEAD ATTITUDE (2003) nun hautnah die amerikanische White-Power-Bewegung untrersucht.

Sowohl formal als auch inhaltlich bestätigt der vorliegende Band "Cinema: Erotik" die hohen Erwartungen, die man nach dem letztjährigen "Cinema: Essay" haben konnte: Frische Perspektiven, literarisch hochwertige Beiträge, neue Forschungsansätze und inspirierende Gedankenblitze prägen dieses Buch, das nicht erschöpfend mit seinem Thema umgehen möchte, und gerade deshalb erfolgreich nach originellen Ansätzen sucht.

Die Beiträge diesen Bandes stammen von Annette Althaus, Johannes Binotto, Natalie Böhler, Philipp Brunner, Thomas Christen, Luzia von Deschwanden, Eleonore Frey, Anita Gertiser, Jen Haas, Daniela Janser, Ursula von Keitz, Francesco Laratta, Bea Lauper, Julia Marx, Daniele Muscionico, Ilma Rakusa, Birgit Schmid, Doris Senn, Daniel Stapfer, Mariann Sträuli, Sandra Walser, Michèle Wannaz.

Marcus Stiglegger