Reutoff

Gute Nacht, Berlin!

(Hau Ruck! 2003) 7 Tracks

Dernière Volonté

Les Blessures de l'Ombre

(Hau Ruck! 2003) 14 Tracks

Nachdem bereits zu Beginn des Jahres eine ganze Reihe interessanter Veröffentlichungen des Wiener Labels Hau Ruck! zu verzeichnen waren, macht dieses nun erneut mit zwei außergewöhnlichen Tonträgern auf sich aufmerksam. Beide präsentiert im edlen, matten Digipack, zeigen die CDs die unberechenbare Vielseitigkeit des Labels:

Aus Russland kommt das perkussive Ambientprojekt Reutoff, das mit vielschichtigen Klanggebilden ein teils erschreckendes, teils meditatives Bild der deutschen Hauptstadt entwirft. Das Cover zeigt eine nächtliche Ansicht des effektvoll beleuchteten Funkturmes, unmittelbar neben einem weit älteren Gebäude. Hier schon zeigt sich die Zweigesichtigkeit der Stadt. Deutlicher wird das im Inneren des Digipacks, wo alte Häuser vereinzelt neben wüsten und leergeräumten Flächen stehen. Die einst zwischen Ost und West zerrissene Stadt steht für eine nur langsam heilende Wunde Europas, deren einst getrennte Welten mühsam zueinander finden müssen, um neue kulturelle Kraft schöpfen zu können. Songtitel wie "Die Sünden der Väter" oder "Die rote Fahne" gemahnen an die vergangenen Ereignisse, wie Geister der Geschichte flüstern und raunen die Stimmsamples auf der Tonspur in die flächigen und trancigen Passagen. Langsam pulsieren hallende Trommelschläge, Keyboardsequenzen lichten das Dunkel und verschwinden wieder, nur in Fragmenten präsente Stimmen klagen an, verklingen... Das Knistern einer alten Platte verweist auf den Hauch der Vergangenheit. Eine schwere Düsternis liegt über dieser Stadt: Gute Nacht, Berlin!

Einen weit schwärmerischeren, pathetischen Charakter hat die zweite CD des französischen Projekts Dernière Volonté, einer Zweimannband, die am ehesten einen Stil verkörpert, der im Umfeld von Industrial Culture und Neofolk als "Military Pop" bezeichnet wird: Hymnischer, beschwörender französischer Männergesang, einschmeichelnde, harmonische Melodiepassagen - mal mittelalterlicher, man folkloristischer Herkunft und natürlich pulsierende und martialische Trommelschläge erzählen von einem heroischen Lebensgefühl, das das "Dasein als Kampf" begriffen wissen will. Garniert mit Célinescher Selbsterniedrigung ("Das ist das Leben: ein Anschein von Licht, der in der Nacht vergeht") wird hier der Soundtrack zu einem 'reaktionären Traumtheater' geschaffen, erhaben und grandios, nie überladen oder peinlich in all der posierten Schwärmerei. Auch an die Tanzflächen der Gothic-Clubs wurde hier gedacht, ein Aspekt, der nur die gelungene Eingängikeit des Materials bekräftigt. Dernière Volonté, eine martialische Boygroup mit markantem, fast schönem Gesang, knüpfen an das Erbe der Briten In the Nursery gelungen an und verleihen dem sinnlich-erotischen Männerbund à la Jean Genet ein frisches, neues Gesicht.

In beiden Fällen kann man die Ergebnisse als atemberaubend bezeichnen...

Christoph Donarski