Industrial/Experimental Frühjahr 2005

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Ionosphere & Land:Fire

Of Mind and of Abyss

(PAS/Loki 2005) 12" 4 Tracks (lim.)

Klangesoterische Erkundungen am Rande des Universums: Was uns die beiden Lokibands Ionosphere und Land:Fire (Herbst9-Split-Projekt) hier bieten, ist eine aufregende und faszinierende Reise in bislang unerkundete Sphären - Reisen an den Abgrund unserer Existenz... "...there are places we are not yet read to go. places where thoughts and desires, fears and pain manifest in reality..." heißt es auf dem Cover.

Die ersten drei Stücke von Ionosphere entfalten einen Darkambient-Reigen, der sich langsam entwickelt und auf Track 3 "of granular dreams" in einem filigranen Rhythmus gipfelt, der einen hypnotischen Sog erzeugt. Wer sich bis dahin bereits an die philosophische Science-Fiction von Stanilaw Lem ("Solaris") erinnert fühlte, wird auf dem Beitrag von Land:Fire "space interferometry mission" endgültig in das "schwarze Loch" hineingezogen: in der Gegenwelt ist nichts mehr, was es war: "near a black hole, time slows down. at its center, matter becomes infinitely compressed, and spce and time as we know it collapse." Land:Fire bedienen sich langer Drones und irritierender hoher Frequenzen, um das Alltagsbewusstsein des Hörers außer Kraft zu setzen. Am Abgrund bleibt nur noch ein sehnendes Zittern...

Die auch in der visuellen Gestaltung adäquate E.P. (siehe Coverfoto) kann als weiterer Höhepunkt im Rahmen des Darkambient-Genres betrachtet werden, das das Leipziger Loki-Label in den letzten Jahren nachhaltig geprägt hatte: Klangkunst als Medium philsophischer Ideen...

:ms:

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Child Patrol

Come now little ones

(mal'occhio 2005) CD 10 Tracks

Das neue Label ma'occhio präsentiert eine Harsh-Noise-CD als Wiederauflage von Child Patrols "Come now little ones", erstveröffentlicht 1999. Geliefert in ausgestanzter Hardpappe, fällt diese CD zunächst durch klischeebehaftetes Kokettieren mit Doppeldeutigkeiten auf, die u.a. auch Brighter Death Now bereits kultiviert haben: ein kleiner, fast dämonisch blickender Junge auf dem Cover, Titel wie "We save your children", "Kinderlähmung" oder "Nanny says goodnight". Nun ja, die Musik wird vor allem Fans von sägendem Ultra-Noise gefallen, eine konsequente und rückhaltlose Gehirnspühlung, sofern man die CD auf voller Lautstärke hört. Nicht wirklich originell allerdings - dafür limitiert auf 450 Stück. Infos: little-one[at]mal-occhio.com. cd

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Martin Bladh

Umbilical Cords

(Segerhuva 2005) CD 5 Tracks

Der schwedische Tonkünstler Martin Bladh ist vor allem von seinen Projekten IRM und Skin Area bekannt, die u.a. auf Cold Meat Industries einem größeren Publikum zugänglich gemacht wurden und auf dem Wave Gotik Treffen in Leipzig eindrucksvolle Performances lieferten. Auf der nun vorliegenden 'Illbient'-CD "Umbilical Cords" widmet sich Bladh einer anderen Klangwelt - weg von den noisigen Powerelectronics dominieren hier düstere Drones und vor allem natürliche Sounds. Das Label kündigt diese finstere Scheibe als 'Reise durch den schwangeren Leib' an. Eine beklemmende, unbequeme Erfahrung, von der dennoch eine finstere Schönheit ausgeht. Ein unheimliches Glimmen, wenn man so will. Wie immer bei Segerhuva bleibt das alles weitgehend für sich stehen - minimalistisch, für Puristen eben. Cord 1 bis 4 und einen Nachtrag: Wer diese Musik laut und mit zusätzlichem Bass hört, wird sich an frühere Klangteppiche von Lustmord erinert fühlen. Wenn das kein Zeugnis ist...?

Alex D.

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L'anus solaire

Orifices

(Anus solaire 2004) CD 12 Tracks

Der französische Transgressions-Philosoph Georges Bataille zählt sicherlich heute nicht mehr zu den Diskurs-Denkern, doch seine auf Sexualität und Verschwendung basierenden Theorien erweisen sich als erstaunlich langlebig, was ihre Rezeption vor allem in experimentellen Underground betrifft. So ist es fast erstaunlich, dass nach frühen Ansätzen bei Psychic TV, Coil und SPK erst jetzt wieder eine Band versucht, Batailles Denken in experimentelle Klänge umzusetzen. L'anus solaire ist ein französisches Projekt, das sich bereits im Namen zu Bataille (und seinem Vordenker de Sade) bekennt: der Anus als 'Lichtbringer', als Quell einer "nichtreproduzierenden, reinen Lust". Anale Sexualität wird gefeiert als reine Verschwendung, als sexuelle Lust um ihrer Selbst willen, unabhängig von den Mechanismen der biologischen Fortpflanzung. Somit steht der Anus auch im Zentrum dieser fast mit einem "Oldschool"-Sound arbeitenden Klangcollagen, die in vier Kapitel zu je drei Abschnitten gegliedert wurden. Mit teils beklemmenden, teils völlig anarchistischen Strukturen und Samples nähert sich L'anus solaire dieser Feier des "Arsches", wie de Sade es gefallen hätte. Ein spannendes Unterfangen, das in der Post-Industrial-Kultur viel zu selten zu verzeichnen ist, verwandt vielleicht den B.-S.-Productions aus der Schweiz. Leider sind die begleitenden Texte des Booklets nur auf Französisch, es sollte aber kein Problem sein, im Internet zu den Themen zu recherchieren. Auch die kurze Laufzeit der CD (ca. 30 Min.) wäre zu bemängeln, aber da es sich um ein Konzeptwerk handelt, sollte man dem Künstler vertrauen. :ms:

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Marspiter

Ultionis

(Somnambulant Records 2005) CD 10 Tracks

Verziert mit einem römischen Legionärshelm kommt diese amerikanische Historical-Ambient/Military-Ritual-Scheibe auf dem Washingtoner (!) Label Somnabulant Records daher. Marspiter orientieren sich mit schweren, meist dumpf gemischten Orchestersamples und pulsierenden, schleppenden Rhythmen am Untergang des antiken römischen Reiches. An- und abschwellende Drones und von Ferne lärmendes Schlachtengtümmel oder martialische Schreie schaffen eine beklemmende, apokalyptische Atmosphäre, den fiktiven Soundtrack zu einem Monumentalepos, das bislang niemand zu drehen wagte. Leider fehlen auf dieser CD deutlich die musikalischen Höhepunkte, die lateinisch betitelten Tracks ergießen sich recht gleichförmig über die 40 Minuten Laufzeit. Wer dennoch nicht genug von solchen pessimistischen Klangorgien bekommen kann, sollte hier zugreifen. Den Anspruch progressiver experimenteller oder wirklich origineller Industrialmusik verfolgte man hier hier allerdings nicht. Info cd

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V.A.

Sweetness will overcome - A Segerhuva Compilation

(Segerhuva 2005) CD 16 Tracks

Das schwedische Label Segerhuva hat sich mit der Veröffentlichung meist heftiger Noise-CDs und -Singles in einer kleinen, spezialisierten Szenen einen guten Namen gemacht. Als 14. Veröffentlichung stellt sich das Label nun auf dieser Zusammenstellung exklusiver Stücke vor. Und der Industrial-/Power-Electronics- und Noise-Fan wird voll auf seine Kosten kommen: Institut und IRM bieten lupenreine Powerelectronics mit sägenden Strukturen, Jarl, Moljebka Pulse und Martin Bladh kultivieren einen verstörenden Ambientnoise (oder "Illbient", wie es Anenzephalia nennen), am Ende bekommen wir noch knüppelharten Powernoise von Barrikad (mit einem UHRWERK ORANGE-Sample) und Blod geboten. Nicht alle 16 Gruppen hier sind dem Rezensenten bekannt, doch erfüllt diese Compilation zweifellos ihr Ziel: radikale Soundscapes und durchspülende Lärmattacken gegen die Banalität des Alltags zu setzen, präsentiert in rötlich-monochromem Fotodesign und mit umfangreichem Booklet. Zweifellos nur geeignet für den devoten Fan, doch insgesamt schlüssig und eindrucksvoll. cd

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Jon Mueller

What's lost is something important. What's found is something not revealed

(Crouton 2005) CD 2 Tracks

Im 7"-Format präsentiert das namhafte Klangkunst-Label Crouton hier das neue Opus von Jon Mueller, der bereits mit Asmus Tietchens, Jason Kahn, Achim Wollscheid u.a. gearbeitet hat. "What's lost..." bietet zwei Stücke, eines davon sehr lang, auf denen unterschiedlichste, teils konventionelle Percussions verfremdet wurden, um sich zunächst in lang verhallenden Drones, später in archaischen Rhythmusmotiven zu entfalten. Die Quelle dieser Sounds ist fast nicht mehr zu identifizieren. Muellers Idee ist die Verschmelzung des Unerwarteten, die Provokation einer neuen Klangwelt, die sich aus dem konventionellen Instrumentarium schält. So kann man diese CD durchaus als Ambient-Noise-Collage goutieren, oder auch als philosophischen Exkurs über die 'wahre Natur der Dinge', die hier zum Singen gebracht werden. Präsentiert in der für Crouton typischen ungewöhnlichen Papp-Verpackung ist diese CD empfehlenswert für den experimentierfreudigen Hörer. Infos: Crouton. cd