MARQUIS

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Anbieter: Bildstoerung.tv
Ein Film von Henri Xhonneux und Roland Topor
Belgien 1989 – deutsche Fassung – 79 Min.
Mit 50 Min. Bonusmaterial

Das jüngst gegründete deutsche DVD- Label Tonstörung hat sich die Wiederentdeckung solcher, oft übersehener, Filme zur Aufgabe gemacht, die individuelle und neuartige Vorstellungen dessen entwickeln, was Film jenseits der vom kulturellen Mainstream akzeptierten filmischen Formensprache sein kann. Es geht um Filme, die mit den etablierten Bildkonventionen brechen und deren oft allzu reibungslose Rezeption stören wollen.

Bei der Wahl für seine erste Veröffentlichung trifft das junge Label eine in jeder Hinsicht akzeptable und treffende Entscheidung. MARQUIS, 1989 vom belgischen Regisseur Henri Xhonneux und dem französischen Literaten, Maler und Graphiker Roland Topor genau zweihundert Jahre nach dem Sturm auf die Bastille produziert, nimmt sich bereits inhaltlich einer der bedeutendsten und verunsicherndsten Gestalten der neuzeitlichen Moderne an, dem Marquis de Sade und dessen Rolle in der Französischen Revolution. Hierbei interessieren sich die beiden Autoren weder für die historische Figur de Sades, noch für dessen literarisches Werk, vielmehr reflektiert MARQUIS eine Figur, die seit über hundert Jahren den Diskurs der Moderne inklusive der Filmgeschichte entscheidend geprägt hat. Dabei stellt der Film die ernst gemeinte Frage, wie sich künstlerisch mit einer Person, deren filmische Rezeptionsgeschichte Historienfilmen, Erotikproduktionen und Horrorphantasien umfasst, (wobei nicht selten literarische Vorlagen de Sades mit dessen realer Person ineinander geblendet werden einer Tradition, der auch Xhonneux und Topor folgen) noch umgehen lässt. Setzt nicht Pasolinis SALO, die in eisiger Kälte und feierlicher Grausamkeit inszenierte Adaption von de Sades DIE 120 TAGE VON SODOM als geschichtsphilosophisches Endspiel des gedemütigten Menschenbildes, das für Pasolini im Kapitalismus seinen finalen Ausdruck findet, einen unübertrefflichen Schlusspunkt anhand der filmischen Beschäftigung mit dem provokanten Philosophen?

Topor und Xhonneux finden eine Lösung in der Lächerlichkeit und inszenieren den gesellschaftlichen Aufbruch in die Moderne als Hanswurstiade, als chaotische Posse. Es entstand eine opulente Fabel, bei der alle Darsteller von Topor entworfene Tiermasken tragen. So greift der Film eine Tradition der frühen Avantgarde auf. Der Angriff auf bürgerliche Moral und Sehgewohnheiten geht schon in Alfred Jarrys 1896 uraufgeführtem Skandalstück KÖNIG UBU mit einem Rückgriff auf die derben Possen des Volkstheaters aus dem 15. Jahrhundert einher, ebenfalls mit einer Verwendung von Masken als Mittel der Entpsychologisierung der Personen und dem Versuch, eine starke Wirkung auf den Zuschauer hervorzurufen, sei es Ekel, Empörung oder Lachen. Topor, Mitbegründer des legendären Panischen Theaters, wurzelt deutlich in dieser drastischen Spielart der Avantgarde, die wohl am prominentesten von Teilen der surrealistischen Bewegung aufgegriffen wurde, und stellte seine bildhafte Phantasie schon zuvor in den Dienst einer Ästhetik des Schocks, etwa anhand seines an Goya gemahnenden graphischen Vorspanns für Fernando Arrabals filmisches Undergroundmeisterwerk VIVA LA MUERTE von 1970. Solche Drastik tritt auch in MARQUIS an einigen Stellen zutage, etwa anhand von Messern, die in die Haut eindringen und Körper verstümmeln, wobei der Einsatz von Tiermasken, auch die sichtbare Verwendung von Puppen, diesen Angriff auf die Unversehrtheit des menschlichen Körper ins Ironische abschwächen. So entwirft der Film eine obszöne Allegorie als Maskenspiel, das gerade aus der Erkundung der unsicheren Grenze von menschlicher und animalischer Physiognomie seine drastische Komik gewinnt, in der ein (gallischer) Hahn während des Orgasmus Kikeriki schreit oder eine Ratte die Zitzen einer Kuh (Justine) für männliche Genitalien hält, bis diese ihn bittet, sie nicht wegen ihrer tief sitzenden Brust zu verspotten.

Ironischerweise ist gerade der Marquis, zur Zeit der Handlung Gefangener in der Bastille, als treu blickender Hund dargestellt, der in seinen Träumen weibliche Körper in Form von übergroßen Knochen begehrt und im Zwiegespräch mit seinem Penis „Colin“ als Hund über die menschliche Natur und die künstlerische Vorstellungskraft sinniert, wobei beide als Geist und Trieb über ihren Anteil an Kreativität und sexuellem Lustempfinden streiten.
Dabei ist, bei aller Turbulenz, die eigentliche Tragik des Marquis die Tatsache, dass der Libertin, trotz seiner Weigerung am neuzeitlichen Pakt im Sinne einer Opferung des individuellen Lustgefühls zugunsten gesellschaftlicher Sicherheit teilzuhaben, selbst zum Opfer eines Systems wird, in dem die wahre Freiheit des Triebbefriedigung nur denen möglich ist, die über genügend Macht und Einfluss verfügen, um einer Bestrafung zu entgehen. Der perfekte Staat ermöglicht das perfekte Verbrechen.

Der Film inszeniert diese konventionelle Problematik de Sades Philosophie anhand einer Intrige, in der der Marquis die Verantwortung für einen sexuellen Skandal des Königshauses übernehmen soll. Darüber hinaus ziehen unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte ihren Nutzen aus den Schriften des Inhaftierten, dessen Gefängnis zum metaphorischen Mikrokosmos der gesellschaftlichen Durchdringung von Macht und sexuellem Begehren wird und das an die immer neu arrangierten existentiellen Gefängnisdramen Jean Genets als Maskenspiele um fiktive Identitäten erinnert. Doch entgegen der rituellen Strenge Genets Bühnendramatik, die auf eine Beeinflussung durch de Sade hinweisen, besitzt MARQUIS eine Verspieltheit, die jeglicher derben Geste eine ironische Note verleiht. So inszeniert der Film etwa am Ende eine Standartsituation des Abenteuerfilms, die Trennung der Weggefährten, wobei sich der Marquis von seinem Penis verabschieden muss, um sich nun ausschließlich der kulturellen Tätigkeit des Schreibens zu widmen. Treffender lässt sich Freuds Konzept der Sublimierung nicht inszenieren.

Intensiviert wird die verunsichernde Kraft des Films durch die fast verstörende Gefälligkeit der Bildgestaltung und der konventionellen Montage. Jede Einstellung besitzt aufgrund der symmetrischen Komposition des Sets, der ausgewogenen Farbverteilung, der trotz weicher Verläufe doch stark akzentuierenden Lichtsetzung und des zartkörnigen Filmmaterials eine pikturale Qualität, die im Zusammenhang mit den kunstvollen Tiermasken für einen lang anhaltenden Eindruck des durch und durch schrägen und intelligenten Filmes sorgen.

Ein Making Off, eine Bildergallerie und ein umfangreiches Textheft komplettieren die sehenswerte DVD, die über exzellente Bildqualität sowie über die originale Tonspur und eine akzeptable deutsche Synchronisation, sowie eine Untertitelung verfügt.

Matthias Abel