Prurient

Time’s Arrow

Label: Hydra Head Records
Format: 12’’ Vinyl, CD
Veröffentlichung: 25.10.2011

Genau wie Prurients letztes Album „Bermuda Drain“ erscheint die neue EP „Time’s Arrow“ wieder bei Hydra Head Records. Zwischen beiden Tonträgen bestehen neben dem gleichen Erscheinungsort jedoch weitere Parallelen. So kann man auf der Homepage von Hospital Productions (Prurients eigenem Label) über „Time’s Arrow“ lesen: „the violent, rhythmic, atonal counterpart to bermuda drain“. Und tatsächlich entpuppt sich das Werk sperriger Doppelgänger. Thematisch orientiert sich „Time’s Arrow“ an dem gleichnamigen Roman des britischen Schriftstellers Martin Amis. Dessen Roman erzählt die Geschichte von einem KZ-Arzt in chronologisch umgekehrter Reihenfolge. Auch im Werk des New Yorker Noise-Künstlers manifestieren sich kausale Umkehrungen – auf „Time’s Arrow“ wird das Album „Bermuda Drain“ gewissermaßen rückwärts reflektiert.

Die EP beginnt mit dem Titeltrack, der in gleich zwei Versionen enthalten ist. Das rhythmisch pulsierende Stück schabt sich wie ein Mantra aus den Boxen und wird nur an einigen wenigen Stellen durch eine nach unten gepitchte Stimme überlagert. Synthesizer-Flächen rufen die Soundtracks von John Carpenter in Erinnerung – auch das ist eine Gemeinsamkeit mit „Bermuda Drain“. Die zweite Version des Stückes trägt in Klammer den Zusatz „unsolved“ und erscheint trotz unverkennbarer Ähnlichkeit wesentlich direkter und kantiger als sein Vorgänger.
Als nächstes verweist „Let’s Make A Slave“ direkt auf Bermuda Drain, auf dem dieser Song in anderer Form schon zu finden war. Auch hier weist ein Zusatz in Klammer auf die Neuinterpretation hin: „de-shelled“. Aus seinem Panzer gebrochen – so ließe sich diese kryptische Chiffre paraphrasieren. In der Tat betritt Prurient mit diesem Stück, aber auch mit den darauf folgenden „Maskless Face“ und „Slavery In The Bahamas (instrumental)“ Gebiete, die auf „Bermuda Drain“ ausgespart bleiben. Hier gewinnt Formlosigkeit Raum zurück und Abstraktion verdrängt stabile Struktur. Die Stücke wirken in positiver Weise unfertig und zeichnen sich durch aggressive Feedbacks und unvorhersehbare Brüche aus. Obgleich das Sounddesign stets an „Bermuda Drain“ angelehnt bleibt, zeigt „Time’s Arrow“ doch in eine andere Richtung.

Das Motiv der kausalen Umkehrung beziehungsweise der Reversibilität wird auf „Time’s Arrow“ neben dem Bezug zu Amis’ Roman noch in einer anderen Weise antizipiert. Auf der hochwertig gestalteten Vinyl-Innenhülle sind prosaische Miniaturen des Physikers Jim Al-Khalili, des Journalisten Charles Seife, sowie von Alex Hunter abgedruckt. Diese problematisieren Fragen der Thermodynamik, Entropie und den Selbstmord der Physikers Ludwig Botzmann. Auch hier steht die Umkehrbarkeit von Zustandsformen im Zentrum. All diese komplexen und vielschichtigen Verweise machen „Time’s Arrow“ zu einem schwer durchschaubaren Kunstwerk, das einer einfachen Deutung zu widerstehen vermag.

In emblematischer Form verdeutlichen auch die Cover von „Bermuda Drain“ und „Time’s Arrow“ diese Verschiebung. „Bermuda Drain“ zeigt eine zu einem Kreis geformte blaue Kordel auf weisem Grund und symbolisiert somit nicht nur Ordnung, sondern in gewisser Weise auch einen hermeneutischen Zirkel. „Time’s Arrow“ hingegen konfrontiert den Betrachter mit unterschiedlich farbigen und zu einem Netz versponnenen Kordeln vor einer unsauberen Holzoberfläche. Nicht Ordnung und Hermeneutik, das Rhizom von Deleuze und Guattari scheinen hier als epistemologischer Zugang zu dienen. Genau wie das Modell der beiden Philosophen verweist auch „Time’s Arrow“ auf keinen definitiven Anfang, ist vielgestaltig, weitverästelt und kausal nicht zu greifen.

Eine tolle Veröffentlichung, die nicht nur als Ergänzung zum großartigen „Bermuda Drain“ wahrgenommen werden sollte, sondern auch für sich selbst steht. „Time’s Arrow“ ist ein in Klang überführtes Philosophisches Manifest, jedenfalls kann es als ein solches gelesen (bzw. gehört) werden.

Patrick Kilian