Botho Strauß

Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich

München: Hanser 2003, S. 150, ISBN 3-446-20357-5

Fleisch: Stellvertreter des Herzens im Handgemenge der Liebe.

In der Mythologie der australischen Aborigines bezeichnet die Traumzeit jenen Moment, in dem Alltag und Mythos verschmelzen, in dem profane und sakrale Zeit in eins fallen. Es verwundert also kaum, dass dieses Modell zumindest im Zustand des Traumes, am Übergang zwischen Wachen und Tiefschlaf, auch seinen Platz im europäischen Denken bewahrt hat. In der 'magischen‘ Zeit des Dämmerns und freien Assoziierens wird die Alltagserfahrung zum bewußtseinserweiternden Loop, mündet die freie Assoziation in irrationale Verknüpfungen, die – so scheint es – nicht müde werden, aus unserem ewigen Mythenreservoir zu schöpfen. Auch die zyklische Struktur verbindet Traum und Mythos, qualifiziert die Traumzeit letztlich als eine letzte Domäne in einer aufgeklärten Welt, die sich beharrlich dem Zugriff der Vernunft entzieht.

Die Beschäftigung mit dem mythischen Denken begleitet das Werk des Dichters, Essayisten und Bühnenautors Botho Strauß bekanntlich seit seinen frühen Arbeiten. In seinem 'RomantischenReflexionsRoman‘ Der junge Mann (1984) forderte er gar eine bewusste Rückkehr zu einem Denken in mythischen Zusammenhängen ein. So spielen Traum und traumgleiches Wandeln immer wieder eine Schlüsselrolle – vor allem im Prosawerk von Strauß, sei es als Analogie von Schreiben und Träumen oder als radikal subjektiver Blick in die menschliche Wahrnehmung. Strauß‘ Werke funktionieren geradezu als Wandel an der Grenze jener Welten. In Theorie der Drohung aus Marlenes Schwester (1975) verwandelt sich der Erzähler scheinbar in jene Frau, die zu Beginn nach ihm sucht. Explizit erotisch aufgeladen wurde dieses Changieren in dem Roman Kongreß. Kette der Demütigungen (1989), wo sich ein 'Leser‘ im Irrgarten seiner sexuellen Vorstellungen verläuft. Mit dem neuen Roman Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich liegt nun eine Fortsetzungen dieses erotischen Fabulierens vor, das zugleich formal an die rätselhaft-zyklische Struktur des vorangehenden Buches Das Partikular (2000) anschließt. Hier gerät der Traum zu einem verlorenen Urzustand: „Der Traum kann, was wir im Wachen als fest und fertig sehen, in einen offenen Gestaltwandel zurücksetzen. Er erfüllt lediglich das Verlangen nach der wiedergefundenen Unfertigkeit und Kindheit aller Zusammenhänge.“ Der Traum ist zugleich die Sphäre, die sich dem prometheischen Impuls des (post)modernen Menschen entzieht: Hier kann er nicht nach belieben walten und formen. Der Traum bleibt unberechenbar, roh und damit – gefährlich.

Auch Sexualität erscheint in mythischem Gewand: „Das Kräuselhaar ihres Vorzeigeverstecks wehte wie Tang in der Strömung. Dies unpaarige Auge, von dem es heißt, es kenne nur die Erwartung, lag hier wie eine stille Erinnerung an uralte Brauchtümer, die unter uns Heutigen niemand mehr kannte.“ Das Bild für die 'uralt gebliebene‘ Gesellschaft ist hier Asthan aus Lord Dunsays Idle days of the Yann: „In dieser Stadt war alles uralt geblieben, die Mauern, die Sitten und alle Dinge. [...] Und jeder bewegte sich im tiefen Einvernehmen mit Riten und Zeremonien aus grauer Vorzeit.“ Die Sexualität, das Leben selbst schließlich, muss wieder Ritual werden, so klingt es hier durch. Wobei man passagenweise einen ähnlichen Sexualekel, eine Art Körperentfremdung, verspürt, wie er aus Rumor (1982) bekannt ist: wenn die weiblichen Brustwarzen etwa als „Brustpfröpfchen“ (S. 62) umschrieben werden. Strauß interessiert weniger der Akt selbst als dessen transzendentale Konnotation.

Und zugleich ist Die Nacht... ein Buch das immer wieder tief trifft mit seinen Gedanken über Liebe und (Un)Treue, über Verlust und Schmerz. Man könnte diese aufregende Reflexionsprosa in einer fast surrealistischen Tradition sehen, tatsächlich ist sie aber vor allem einem verpflichtet: der unverwechselbaren Imaginationskraft des Autors selbst, dessen Ideenschichtungen und Zeitwaben stets von Neuem faszinieren.

Marcus Stiglegger