Sabine Nessel / Winfried Pauleit / Christine Rüffert / Karl-Heinz Schmid / Alfred Tews (Hg.)

Wort und Fleisch
Kino zwischen Text und Körper

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Bertz & Fischer 2007, 158 Seiten, CD-Rom mit engl. Übersetzung und Filmclips

Es geht um die taktile Qualität des Kinos, den offenbar unmittelbaren Bezug zwischen Bild, Klang und Körper (des Zuschauers etwa). Diese Qualität geht weit über die dramaturgischen und kompositorischen Aspekte des Films hinaus, lässt sich vielmehr, wie es Robin Curtis in diesem Band beschreibt, als 'performativ' definieren. Film als Performance, das erinnert an sensomotorische Manipulationsmaschinen wie etwa Gaspar Noés grandiosen IRREVERSIBLE - einer von zahlreichen neueren Filmen, die genannt werden (wenn auch nur kurz in diesem Band).

"Wort und Fleisch" ist ein Tagungsband, eine Aufsatzsammlung und ein echter Mixed-Bag. Das mag heißen, dass kaum einer der Ansätze so richtig zum anderen passt, das heißt aber auch, dass hier eine Menge zu entdecken ist. Eine Menge, wenn es auch mehr sein könnte. Denn so lautet die Selbstdefinition des Buches: "Frühe Filmtheoretiker wussten um den Stellenwert des Körpers für das Kino. Mit dem 'linguistic turn' der 1960er geriet er vorübergehend in Vergessenheit. Film wurde nun primär als Textform begriffen, die es lesend zu entziffern galt. Erst in den 1990er Jahren wurde das Körperliche wieder zu einem zentralen Forschungsgegenstand der Filmwissenschaft." Das vorliegende Buch strebt danach, diese beide Perspektiven zusammen zu bringen und erkundet anhand zahlreicher Fallbeispiele das Spannungsfeld zwischen Text und Körper. Das ist spannend, keine Frage. Es gab schon einmal einen solchen Versuch der Arnoldhainer Filmgespräche: "No Body is Perfect" (Schüren Verlag 2001), doch dieser Band, der in "Wort und Fleisch" erstaunlicher Weise keine Berücksichtung findet, ging noch recht phänomenologisch vor (was ihn nicht weniger fruchtbar macht).

Immerhin leistet der Beitrag von Thomas Morsch einiges, und zwar anhand eines modernen Klassikers: AUDITION (1999) von Takashi Miike. Shaviro und Deluze werden bemüht, Bezüge zu Noé, Clair Denis und Cathérine Breillat zumindest kurz betont. Die Ästhetik des Schocks ist taktiles Kino, fürwahr.

Sabine Nessel setzt sich dann mit Christian Metz und der Kontinuität der Filmsemiotik auseinander, Domènec Font untersucht zeitgenössische Formen des Vampirismus. Hier treffen wir kurz auf zwei Regisseure des Körpers, die wir lange erwartet haben: David Lynch und David Cronenberg. Doch letztlich geht es hier um Kubrick, um FREAKS und um INVASION OF THE BODY SNATCHERS (Ferrara könnte man hierbei auch mal erinnern, dessen 'physisches Remake' des klassischen Films noch immer Aktualität besitzt). Wolfgang Beilenhoff analysiert den "sowjetischen Kollektivkörper", bereits thematisch ein Klassiker - und völlig einleuchten in diesem Kontext. (Ko)Herausgeber Winfried Pauleit untersucht Roland Barthes' "Dritten Sinn", knüpft wiederum an die Semiologie an. Auch das: nicht uninteressant und erstaunlich nachvollziehbar.

Der bereits erwähnte Text von Robin Curtis "How Do We Do Things with Films?" entdeckt die Performativität des Films also wieder und kommt zudem auf die Deixis, das selbstverweisende des Mediums zu sprechen, eine These, die vor allem im ethnographischen Film ausführlich diskutiert wurde (der Ethnologe Ivo Strecker schrieb einen bekannten Text dazu). Ein sehr theorielastiger Text ist das, der erst am Ende buchstäblich in Fahrt kommt (THE FUGITIVE, BAD BOYS II etc.), doch dann ist er auch schon vorbei. Schade. Mehr Anschuung zur Abstraktion wäre wünschenswert.

Klaus Theweleit: der große Essayist, immer ein Freund des Kinos gewesen, immer originell und waghalsig. Seine "Übertragung und Gegenübertragung" hält sich am frühen Kino (Griffith, Méliès), knüpft Verbindungen und fabuliert, ohne das Sujet zu verlieren. Eine Qualität für sich, die sich hier entfaltet, in der sich eine (inzwischen) 'alte Schule' des kulturwissenschaftlichen Essayismus zeigt, die zahlreichen filmtheoretischen Verkrampfungen heute weit überlegen ist.

Richard Dyers Text über Lena Horne in Hollywood mag als Marginalie durchgehen, bevor Gabriele Jutz noch einmal in die Faszination des Experimentellen taucht: "Das Rohe und der Code" thematisiert das cinema brut und dessen Körperbezug.

Dass Bettina Böhler den Bremer Filmpreis als Cutterin erhielt, sei ihr gegönnt, doch die Laudatio bereichert das Buch nicht wirklich. Aber die Vollständigkeit der Dokumentation sei gestattet.

Bertz & Fischer haben vermutlich mit Thomas Meders "Der Produzent ist der Zuschauer" gute Erfahrungen gesammelt, denn das Buch "Wort und Fleisch" liegt hier auch als beiliegende CD-ROM vor, darin unterstützt von qualitativ guten und sinnvollen Filmsequenzen. Das bereichert vor allem die Lektüre des virtuellen Fassung, denn sonst ist es etwas umständlich. Immerhin erscheint die Publikation damit zweisprachig auf deutsch und englisch, zweifellos von Vorteil in einer Zeit, in der man in Deutschland Theorien entwickelt, die international kaum wahrgenommen werden...

Wer sich für das genannte Thema brennend interessiert, wird hier einige Anregungen finden, zudem bekommt er ein sorgfältig gestaltetes Buch. Doch nicht alles hier ist neu, originell und brauchbar. Und vor allem zeigt sich eine erstaunliche Lückenhaftigkeit in den sehr diversen Ansätzen. Wer nach Cronenberg, Tsukamoto, Noé - den Meistern filmischer bodypolitics - sucht, wird hier eher verzweifeln. Mehr Anschuung zur Theorie ist zudem immer ein produktiver Zug. Aber dazu findet man in der "Deep Focus"-Reihe des gleichen Verlages ja auch interessante Beispiele...

:ms: